3. September 2020

Schmöker: “Die geheime Geschichte” von Donna Tartt

Die geheime Geschichte von Donna Tartt

“Die geheime Geschichte”: Gute Dinge brauchen Weile

Donna Tartt hat mich mit „Die geheime Geschichte“ vor eine meiner größten Leseherausforderungen überhaupt gestellt. Entweder ich schaffe es bei Büchern zügig über die ersten 100 Seiten hinaus, dann bleibe ich dabei. Wenn sich der Anfang aber schon als schwierig erweist, verschwende ich keine weitere Zeit mit einem Buch. Next. Donna Tartt hat dieses Vorgehen nun komplett durcheinander gewirbelt.

Zurück zum Debüt

Auf „Die geheime Geschichte“ hatte ich mich besonders gefreut, da ich „Der Distelfink“ von ihr so unendlich schön und spannend fand. Deshalb sollte es nun ihr Debüt sein. Anfang der 1990er-Jahre erschien es – und wurde von den Kritikern sehr wohlwollend aufgenommen. Auch ich las bereits den Text auf der Rückseite mit großem Interesse: „Fünf College-Studenten begehen einen Mord. Ihre Tat bleibt unentdeckt. Doch das wahre Grauen steht ihnen erst bevor.“

Auf Spannungssuche

Um eins vorweg zu nehmen: Spannung kam auf keiner der 572 Seiten bei mir auf. Wer einen Krimi mit ausgeklügeltem Plot erwartet, wird bitter enttäuscht. Das hatte ich zwar gar nicht, war aber irgendwann trotzdem verwundert, dass der krimitypische Page-Turner-Effekt nicht eintritt. „Die geheime Geschichte“ ist einfach anders, sonderbar, besonders.

Bereits im Prolog beschreibt Ich-Erzähler Richard vom Mord seiner Clique an dem jungen Bunny. Dann teilt sich die Geschichte in zwei „Bücher“, sie sind exakt gleich lang. Der erste Teil erklärt, wie es zur Tat kommt, der zweite, was danach passiert. Wie auch im „Distelfink“ kreiert Donna Tartt vielschichtige Charaktere und schafft dadurch einen wunderbaren Blick in Gesellschaftsschichten, Freundschaften und Familien. In Tragödien, Angstzustände und Wirrwarr.

Holpriger Start

Doch während ich den „Distelfink“ kaum aus der Hand legen konnte, zogen sich die ersten 150 Seiten von „Die geheime Geschichte“ sehr zäh. Viel zu sehr verliert sich die Autorin im Beschreiben von Zimmern, Landschaften und dem Griechischlernen der Protangonisten. Die Handlung schreitet dadurch sehr langsam voran.

Kurz: Ich kam einfach nicht rein, las fünf Seiten, hörte wieder für mehrere Tage auf. Las dann wieder kurz – und hörte nach zehn Minuten auf. Zig Mal wollte ich den Roman schon komplett weglegen, weil ich die Befürchtung hatte, sonst kein anderes Buch mehr in diesem Jahr zu schaffen. Aber irgendwas hielt mich dann doch davon ab.

Romantisierung des Erbrochenen

Nach etwa 170 Seiten war es endlich soweit: Die Geschichte hatte mich gepackt. Dann saß ich abends oft stundenlang auf dem Balkon. Las, las und las. Beeindruckende Sätze wie:

„Aus der Ferne betrachtet, verströmte sein Charakter einen Eindruck von Solidität und Ganzheit, der in Wirklichkeit so stofflos war wie ein Hologramm; aus der Nähe betrachtet sah man, dass er aus Stäubchen und Licht bestand und dass man mit der Hand hindurchgreifen konnte. Aber wenn man weit genug zurücktrat, schaltete die Illusion sich wieder ein, und dann stand er da, überlebensgroß, blinzelte einen hinter seinen kleinen Brillengläsern an und harkte sich mit einer Hand eine feuchte Haarsträhne aus der Stirn.“

Immer wieder zückte ich mir einen Stift, umkringelte solche Sätze, machte mir Ecken in das Buch. Noch nie habe ich außerdem so poetisch über das Übergeben gelesen:

„Mein Mund war gespentisch blau gefleckt. Als mir im Bad die Drinks wieder hochkamen, waren sie brillantfarben und völlig klar, ein Schwall von pulsierendem, ätzendem Türkis, der aussah wie der blaue Wasserzusatz im Spülkasten.“

Ich habe lange gebraucht, um mit „Die geheime Geschichte“ warm zu werden. Aber nun bin ich sehr glücklich, dass ich durchgehalten habe. Das Buch ist unfassbar klug, tiefgründig und facettenreich. Manche Dinge brauchen eben ihre Zeit.

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Hallo, ich bin Miriam

Stets bin ich auf der Reise: durch Karlsruhe, die Kultur und die Welt. Dabei begegnen mir immer wieder interessante Menschen, Bücher, Filme und anderer Krimskrams. Damit all diese Erfahrungen und Eindrücke nicht einsam in meinem Kopf schwirren, gibt es diesen Blog. Aus Grau wird Kunterbunt.

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