29. Juni 2021

Schmöker: “Swing Time” von Zadie Smith

 "Swing Time" von Zadie Smith

Kritik “Swing Time”: Toller Roman über eine Mädchen-Freundschaft

Es ist ein Samstag im Jahr 1982, als sich die beiden dunkelhäutigen Mädchen zum ersten Mal auf dem Weg zu einer Ballettstunde in einem Kirchhof begegnen. Sofort sind die Dinge sichtbar, die sie miteinander verbinden:

„Wir hatten beide den identischen Braunton, als hätte man ein Stück hellbraunen Stoff durchgeschnitten, um uns beide daraus zu machen, unsere Sommersprossen sammelten sich an der gleichen Stelle, wir waren gleich groß.”

Das erzählt die namenlose Ich-Erzählerin gleich zu Beginn von „Swing Time“. Sie und Tracey leben in tristen Hochhausanlagen in London. Ihre große Leidenschaft: das Tanzen und Musicals. Die zufällige Begegnung bei den Ballettstunden ist der Beginn einer tiefen Freundschaft, die in den nächsten Jahrzehnten jedoch immer wieder großen Herausforderungen ausgesetzt ist.

Feminismus, Diskriminierung, Pop-Kultur

Mit „Swing Time“ hat Autorin Zadie Smith einen ergreifenden Roman geschrieben, der zeigt, wie unterschiedlich Biografien verlaufen können, wie das Schicksal immer wieder neue Chancen geben, aber auch nehmen kann. Über mehr als 20 Jahre begleitet sie ihre beiden Protagonistinnen – durch London, West-Afrika und die USA. Sie zeigt, wie kleine Stellschrauben letztlich alles im Leben verändern können – und wie sehr wir von unseren Eltern geprägt sind.

Dabei webt Zadie Smith in ihren Erzählstränge immer wieder auf sehr feine Art feministische, politische und popkulturelle Aspekte mitein. Sie behandelt Rassismus und Diskriminierung. Aber ohne den Leser damit zu erschlagen, sondern ihn vielmehr durch die Erlebnisse ihrer Figuren zum Nachdenken zu bringen. Vor allem die Abschnitte, die in Afrika spielen, werfen Fragen auf: Wie dürfen wir aus der westlichen Welt über das dortige Leben urteilen? Können wir unsere moralischen Maßstäbe einfach direkt auf das Zusammenleben der Menschen dort übertragen?

So ähnlich, aber doch verschieden

Obwohl Tracey und die namenlose Ich-Erzählerin auf den ersten Blick ähnlich aussehen und im gleichen Viertel aufwachsen, unterscheidet sich letztlich doch eine Menge. Tracey lebt mit ihrer alleinerziehenden, arbeitslosen, aknegeplagten, weißen Mutter zusammen. Ihr Vater verbringt seine Zeit im Gefängnis oder bei einer anderen Frau, mit der er ebenfalls Kinder hat. Tracey blendet das alles aus, glorifiziert ihren Vater, erzählt anderen, er sei Background-Tänzer bei Michael Jackson.

Während Tracey rau und wild ist, zeigt sich die anonyme Erzählerin dagegen häufig melancholisch und zurückhaltend. Ihre Mutter ist eine Feministin mit raspelkurzem Afro. Die Erzählerin beschreibt sie so:

„Wenn man aussieht wie Nofretete, spielen Haare keine Rolle. Sie brauchte weder Make-up noch Kosmetik, weder Schmuck noch teure Kleidung.“

Anhand der Biografie dieser starken Mutter zeigt Zadie Smith die Emanzipation einer Frau, die sich über die Jahre durch Bildung aus der beengten Sozialwohnung selbst herauskatapultiert, ihren Weg geht, sich ihre Träume erfüllt.

Ein Megastar jettet durch die Welt

Ihre Tochter, die Ich-Erzählerin, landet nach dem Studium als persönliche Assistentin bei Aimee, einem großen Popstar. Sie jettet mit ihr um die Welt und besucht mit ihr West-Afrika. Dort bekommt sie einen Einblick in ein Leben eines typischen Megastars wie Madonna oder Angelina Jolie, die in afrikanischen Ländern Kinder adoptierten und sich wohltätig zeigten. Aber geschieht das zur vollkommenen Freude der Menschen dort? Welche Bedingungen sind daran geknüpft? Diese Fragen bleiben offen.

In West-Afrika wird außerdem die Erzählerin mit ihrer eigenen Identität konfrontiert. War sie in England zu dunkel, ist sie hier zu hell. Sie kämpft erneut. Wo gehört sie hin? Was will sie vom Leben? Eine Antwort darauf zu finden, fällt ihr schwer.

Ein paar Längen…

Tracey dagegen bleibt über all die Jahre in London, tanzt. Ab der zweiten Hälfte zieht sich „Swing Time“ ein wenig, zunächst scheint es, als würde die Handlung ein wenig zerfleddern, der Spannungsbogen verloren gehen. Aber letztlich bringt Zadie Smith alle Aspekte wieder zusammen. Gibt ihren Figuren dadurch den Raum, den sie benötigen, zeichnet ein vielseitiges Bild.

…aber insgesamt ein sehr lesenswertes Buch!

„Swing Time“ ist dadurch ein unglaublich kluges und tiefgründiges Buch. Zadie Smith verbindet die emotionalen Geschichten ihrer Figuren mit den brennenden Fragen dieser Zeit. Damit hat sie Literatur geschaffen, die interessante Perspektiven auf die Welt und das gesellschaftliche Zusammenleben liefert – aber ohne moralischen Zeigefinger, sondern subtil durch die Geschichten der Figuren. Ein sehr lesenswerter Roman!

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Hallo, ich bin Miriam

Stets bin ich auf der Reise: durch Karlsruhe, die Kultur und die Welt. Dabei begegnen mir immer wieder interessante Menschen, Bücher, Filme und anderer Krimskrams. Damit all diese Erfahrungen und Eindrücke nicht einsam in meinem Kopf schwirren, gibt es diesen Blog. Aus Grau wird Kunterbunt.

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