23. Juni 2022

Flimmerkasten: Liebe und Anarchie

“Liebe und Anarchie”: Warum die zweite Staffel fantastisch ist!

Sie ist schön, ehrgeizig und erfolgreich: Sofie (Ida Engvoll) hat mit Mitte 30 alles erreicht, was in einem gutbürgerlichen Leben wichtig ist. Mit ihrem Mann und den zwei Kindern lebt sie in einer Designerwohnung mitten in Stockholm, als Beraterin verdient sie eine Menge Geld, ihre Freizeit verbringt sie auf hippen Partys. Es ist ein Leben wie im Bilderbuch.

Doch als sie wegen eines neuen Auftrags zu einem konservativen Verlag kommt, trifft sie dort auf den jungen IT-Techniker Max (Björn Mosten). Es knistert zwischen ihnen – nach und nach gerät Sofies geregeltes Leben immer mehr aus den Fugen. Ihre Welt steht Kopf.

Humorvoll und tiefgründig

Die schwedische Netflixserie „Liebe und Anarchie“ erzählt auf sehr unterhaltsame Weise, wie es möglich ist, sich von gesellschaftlichen Zwängen zu befreien und sich selbst zu finden. Das ist spannend, lustig und an manchen Stellen sehr berührend.

Hinter der Serie steckt die schwedische Regisseurin und Philosophin Lisa Langseth. Ihr ist es gelungen, eine moderne Geschichte zu erzählen, die viele brennende Gesellschaftsfragen unserer Zeit vereint: die Gleichberechtigung im Beruf, die Herausforderung der Digitalisierung für traditionelle Unternehmen und den Umgang mit den sozialen Medien.

Außerdem erzählt Lisa Langseth von den persönlichen Kämpfen, die viele Menschen heute führen: Wie befreie ich mich von familiären Prägungen, wie finde ich zu mir selbst? Was macht mich wirklich glücklich?

Ein Vater, der gegen das System rebelliert!

Sofie ist mit einem Vater aufgewachsen, der lautstark gegen den Kapitalismus protestiert. Für ihn ist die globalisierte Welt mit dem ständigen Streben nach mehr, ein unzumutbarer Zustand. Seine öffentlichen Aktionen bringen ihn regelmäßig in die Psychiatrie. Sofie wünscht sich so sehr, nicht wie ihr Vater zu sein, dass sie alles Unregelmäßige aus ihrem Leben verbannt. Bis sie auf Max trifft.

Der junge IT-Techniker erwischt Sofie eines Abends beim Masturbieren im Büro. Er fotografiert sie und erpresst sich am nächsten Tag ein Mittagessen mit ihr. Es ist der Beginn einer Kaskade von gegenseitigen Mutproben, die sich immer weiter steigern – und nicht nur Einfluss auf das Leben von Sofie und Max nehmen, sondern den gesamten Verlag durcheinanderwirbeln.

Charaktere entwickeln sich

Das Schöne an „Liebe und Anarchie“ ist, dass die Serie ihren Charakteren unglaublich viel Tiefe und Raum für Entwicklung gibt. Es gibt kein oberflächliches Geplänkel in den Gesprächen, keinen unnötigen Smalltalk. Vielmehr stecken viele kleine durchdachte Details in jeder Folge – wie das in Hipsterkreisen so beliebte Bananenbrot.

Die sich ständig steigernden Mutproben zwischen Sofie und Max bringen darüber hinaus viel Dynamik in die Handlung, sind oft sehr komisch und unvorhersehbar.

Auch die Ereignisse im konservativen Verlag sind wunderbar auf den Punkt gebracht. Ein konfliktscheuer Chef, der sich eine Beraterin ins Haus holt, um unpopuläre Entscheidungen zu treffen. Ein führender Lektor, der sich den aktuellen Entwicklungen in der Buchbranche verweigern möchte, eine Kommunikationsleiterin, die ständig zwischen den Stühlen sitzt: Die Reibung, die die Digitalisierung für viele Unternehmen mit sich bringt, könnte nicht besser dargestellt sein.

Liebe und Anarchie: Die zweite Staffel hat die Erwartungen erfüllt!

Nacktheit, Selbstbefriedigung, Sex. Es gibt in „Liebe und Anarchie“ viele mutige Szenen, die aber nie ins Voyeuristische abrutschen, sondern ästhetisch bleiben. Außerdem ist das gesamte Setting in einem modernen skandinavischen Chic gehalten. Die Outfits von Sofie, ihre Haare, das Makeup, das Interieur der Wohnungen, das urbane und ländliche Schweden. Es ist Inspiration pur.

Nach der ersten Staffel war ich skeptisch, ob es überhaupt eine zweite geben sollte. Für mich war unklar, wie die Geschichte mit Tiefgang weitergehen soll – ohne sich zu wiederholen. Nun habe ich innerhalb weniger Tage die acht neuen Folgen auf Netflix geschaut und war sehr berührt.

Die Geschichte mit Sofie und Max steht zwar weiter im Fokus. Aber viel mehr geht es nun darum, wie Sofie vom überraschenden Selbstmord ihres Vaters komplett aus der Bahn geworfen wird.

Nachdem sie zunächst versucht, die Trauer nicht allzu nah an sich ranzulassen, sich dadurch aber von einer destruktiven Handlung zur nächsten manövriert, beginnt ein sehr sehenswerter Befreiungsschlag. Es ist wunderbar mitzuverfolgen, wie Sofie von Folge zu Folge mehr zu sich findet.

Lustige und kluge Geschichte aus dem Verlag

Auch die Ereignisse im Verlag sind wieder sehr zeitgemäß, lustig und skurril. Wie erreicht der Verlag mehr Menschen durch Podcasts? Wie kann er unrentable Autor*innen zur Kasse bitten und wie ist der Umgang mit einer erfolgreichen Autorin, die sowohl Friedrich (Reine Brynolsson) als auch Denise (Gizem Erdogan) den Kopf verdreht.

Für mich als Literatur-Fan sind außerdem die ständigen Referenzen auf Autor*innen wie Karl Ove Knausgard oder Emelia Ferrante ein großer Spaß.

Gibt es eine dritte Staffel von Liebe und Anarchie?

Die zweite Staffel ist deshalb erneut perfekt für mich. Eine kluge Geschichte, modern erzählt, mit viel Tiefgang, aber ohne Kitsch. Und natürlich wieder mit tollen Schauspieler*innen, die alles unglaublich authentisch vermitteln.

Nun bin ich gespannt, ob es noch eine dritte Staffel gibt. Ich hoffe es so sehr!

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5 thoughts on “Flimmerkasten: Liebe und Anarchie

  1. Melina sagt:

    Hallo, auch ich fand die Serie echt schön und dachte mir fast das gleiche wie du. Aber trotzalledem bleiben sehr viele Fragen offen. Wie zum Beispiel: was wird aus dem Verlag, was passiert zwischen Sofie und ihrem Mann, was wird aus Max und Sofie… Und viele weitere Fragen, habe ich mir gestellt am Ende der Serie. Deshalb verstehe ich die Aussage:„Es darf keine zweite Staffel geben” sehr verwirrend. Fragst du dich sowas nicht? Ich würde mich sehr über eine Fortsetzung der Comedy-Romatik-Serie freuen.

    1. Miriam Steinbach sagt:

      Ja, klar, du hast Recht, es gibt viele Fragen, die in einer zweiten Staffel beantwortet werden könnten. Ich fand die letzte Folge nur so rund und die Szene am Balkon so berührend, ich glaube, in einer zweiten Staffel könnte es dann viel wieder um Konflikte gehen, die die Beiden in der „Realität“ haben, falls sie ein Paar werden. Ich fand das Offene deshalb gut. Ne zweite Staffel würde ich aber natürlich auch schauen. ;)

  2. Kathrin vietinghoff sagt:

    Eine selten tolle Serie! Die Schauspieler sind einmalig gut. Eine zweite Staffel ist verlockend aber gefährlich!

  3. gregoriw sagt:

    Also bitte. Die zweite Staffel ist einfach vollkommen überdreht, kitschig und unlogisch. Während die erste Staffel eine nette Idee war, ist die zweite eine reine Zumutung. Ich verstehe absolut nicht, wie du zu so einer Einschätzung kommen kannst.

    1. Miriam Steinbach sagt:

      Also dass die zweite Staffel nicht mehr so einfach zugänglich ist wie die erste, sehe ich auch so. Aber mir hat sie trotzdem sehr gut gefallen, weil sie eben zeigt, was der Tod eines Elternteils in einem Menschen auslösen kann und wie schwierig der Umgang damit ist. Das fand ich weder kitschig noch unlogisch. Sondern bewegend. Aber darf ja jeder anders empfinden. ☺️
      Und eine Fortsetzung der ersten Staffel war in der Form eh kaum mehr möglich. Es hätte sich ja nur wiederholt. Deshalb fand ich es gut, dass der Schwerpunkt ein anderer war.

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Hallo, ich bin Miriam

Stets bin ich auf der Reise: durch Karlsruhe, die Kultur und die Welt. Dabei begegnen mir immer wieder interessante Menschen, Bücher, Filme und anderer Krimskrams. Damit all diese Erfahrungen und Eindrücke nicht einsam in meinem Kopf schwirren, gibt es diesen Blog. Aus Grau wird Kunterbunt.

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