4. Januar 2023

Buchkritik: „Hast du uns endlich gefunden“ von Edgar Selge

„Hast du uns endlich gefunden“ von Edgar Selge

 „Hast du uns endlich gefunden“: ein trister Blick in die bürgerliche Welt der 1960er-Jahre

Wie ist es, in den 1960er-Jahren groß zu werden? Mit Eltern, die im Zweiten Weltkrieg mit dem Regime von Adolf Hitler sympathisierten und nun damit leben müssen, dass sie sich getäuscht haben und jahrelang die Gräueltaten der Nationalsozialisten ignorierten.

Der deutsche Schauspieler Edgar Selge weiß darüber ein ganzes Buch zu schreiben. In seinem autobiografisch angehauchten Roman „Hast du uns endlich gefunden“ lässt er einen Blick zu in seine Kindheit in einer bürgerlichen Familie.

Mit klarer, detailreicher und bewegender Sprache nimmt er die Lesenden mit in eine Zeit, in der Gewalt wie selbstverständlich zur Kindererziehung gehörte und Frauen sich für die Familie aufopferten.

 „Hast du uns endlich gefunden“ hat mich an sehr vielen Stellen zutiefst berührt und nachdenklich gemacht. Edgar Selge ist ein toller Erzähler – und schonungslos, vor allem gegenüber seinem gewaltvollen Vater. Die Ambivalenz seiner Gefühle quillt aus nahezu jedem Kapitel.

Einige Traumata sind tief verwurzelt

Der Autor wächst mit zwei älteren und einem jüngeren Bruder nahe eines Jugendgefängnisses im ostwestfälischen Herford auf. Seine Eltern sind nach dem Zweiten Krieg Flüchtlinge. Sie wurden aus Königsberg in Ostpreußen vertrieben. Ursprünglich stammt seine Mutter aber aus einer wohlhabenden Beamtenfamilie in Berlin. Sein Vater aus einer Musikerfamilie.

Ein weiterer Bruder von Edgar, Rainer, ist bereits 1949 gestorben, als er in einem Park auf eine Handgranate stößt und mit ihr spielt. Ein weiteres Trauma, das tief in der Familie verwurzelt ist.

Edgar Selge erzählt in seinem Buch keine zusammenhängende Geschichte, sondern springt schlaglichtartig zu verschiedenen Erinnerungen und Zeiten. Mal reflektiert er seine Gedanken von der Corona-Pandemie aus und berichtet an anderer Stelle von der Zeit, als sein Bruder Andreas im Sterben liegt. Der größte Teil der rund 20 Kapiteln handelt aber von seinem zwölfjährigen Alter Ego.

Kultur steht im Mittelpunkt der Familie

In den 1960er-Jahren ist Edgar Selges Vater der Leiter der Anstalt für junge Straftäter, neben der die Familie wohnt. Regelmäßig veranstaltet Selge Senior Konzerte, zu denen er die Insassen einlädt. Mit solch einer Szene beginnt auch das Buch. Mit großer Präzision beschreibt der Autor dieses Ereignis. Das Gewusel der 80 jungen Sträflinge im Wohnzimmer des prächtigen Altbaus ist spürbar, die Musikstücke fast schon hörbar.

Musik hat grundsätzlich einen hohen Stellenwert in der Familie. Der Vater ist leidenschaftlicher Pianist, die Mutter versucht sich an der Geige und die Kinder spielen ebenfalls Instrumente. Auch Literatur gehört zu ihrem Alltag – regelmäßig liest das Familienoberhaupt aus Klassikern vor, wie von Dostojewski. Die Stimmung ist aber oft angespannt:

Wir kämpfen hier täglich hart ums Zusammenleben, in dem Fröhlichkeit und gute Laune oberstes Gebot sind. Unsere Eltern wollen beweisen, dass der Krieg und die sogenannte schlechte Zeit vorbei sind. Jetzt muss Glanz her. Auch in den Gesichtern soll es glitzern vor Optimismus. Das ist Arbeit und hat eher mit Zubeißen zu tun als mit Genuss. Musizieren ist Anstrengung, Drill, manchmal auch Erniedrigung. Die Freude kommt vielleicht am Schluss in Form einer Belohnung dazu.

Flucht in Fantasiewelten

Vor allem Edgar hadert als Zwölfjähriger sehr mit der Stimmung zu Hause. Immer wieder lügt er oder entwendet Geld, um auf die Kirmes oder ins Kino zu kommen. Besonders Filme sind seine große Leidenschaft. Meistens wird er bei seinen unerlaubten Ausflügen aber erwischt, was bedeutet, dass sein Vater ihn schlägt.

Um sich in diesem rauen Umfeld zurecht zu finden, flüchtet sich der junge Erzähler gerne in Fantasiewelten. Von einem Baum aus erkundet er als Pilot die Schlachtfelder in Rotterdam, Warschau oder London. Der Gartenweg unter ihm wird dann zur Themse oder Weichsel. Auf diese Weise blendet er für eine Zeitlang die Realität aus.

Politische Diskussionen am Küchentisch

Seine großen Brüder sehen den Zweiten Weltkrieg im Gegensatz zu seinen Eltern mit klarer und kritischer Sicht. Immer wieder kommt es deshalb zu politischen Diskussionen am Essenstisch. Je mehr sich das Buch zu Ende neigt, desto mehr wird klar, wie tief Edgar Selges Vater auch noch nach Kriegsende in dem braunen Sumpf gefangen ist.

In den 1950er-Jahren war er Chef in einem Gefängnis in Werl, wo hohe NS-Offiziere inhaftiert waren. Er bemühte sich sehr, um diesen Herren den Aufenthalt so angenehm wie möglich zu machen – ließ für sie einen Gefängnisgarten anlegen und schleppte Plattenspieler an. Er flog dafür dann im hohen Bogen raus und kam nach Herford. Für seinen Sohn Werner ist das unverständlich.

Aber nicht nur diese Erzählungen werfen kein gutes Licht auf den Vater. Im letzten Drittel des Romans lässt Edgar Selge völlig unvorbereitet durchblitzen, dass es auch sexuellen Missbrauch in der Familie gab. Für mich stieg damit noch mehr die Abscheu gegenüber diesem scheinbar kultivierten Mann, der so viele destruktive Seiten an sich hat und seinen Söhnen eine schwere Kindheit zumutete.

60 Jahre später schreibt Edgar Selge:

Auf dem Schreibtisch liegen meine Arme, kraftlos, meine Finger stellen sich tot, der ganze Körper ist taub, wenn ich an die Schläge meines Vaters denke. Nicht anders als damals am Küchentisch.

 „Hast du uns endlich gefunden“ ist ein so kraftvolles Buch, das trotz der schweren Themen unglaublich gefühlvoll ist.

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2 thoughts on “Buchkritik: „Hast du uns endlich gefunden“ von Edgar Selge

  1. Konrad Manfred sagt:

    Ich denke, das Buch hat einen falschen Titel. Selke,leidet extrem unter seinem Vater, obwohl er wiederholt behauptet dass er ihn liebt.
    Das Buch müsste heißen, ABRECHNUNG MIT MEINEM VATER, Wie sonst kann man derart detailliert derartiges über seinen Vater was dieser getan hat der Öffentlichkeit Preis geben.
    Mich würde interessieren, was Selkes Familie zu diesem Buch sagt?

  2. Sabine Karpinski sagt:

    Ich habe gestaunt über die Offenheit, weil ich mit meinem Vater ja auch mich und meine Situation zeige. E.S. geht auch mit seinem eigenem Verhalten so schonungslos um. Danke dafür. Mir fällt es sogar in meinen Tagebuchaufzeichnungen schwer, die beschämenden Dinge meines Vaters zu benennen – aber ich bin auch eine sehr alte Frau, solche Offenheit nicht so gewohnt, umso angenehmer, wenn andere das so gut lesbar tun. Danke!

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Hallo, ich bin Miriam

Stets bin ich auf der Reise: durch Karlsruhe, die Kultur und die Welt. Dabei begegnen mir immer wieder interessante Menschen, Bücher, Filme und anderer Krimskrams. Damit all diese Erfahrungen und Eindrücke nicht einsam in meinem Kopf schwirren, gibt es diesen Blog. Aus Grau wird Kunterbunt.

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