31. Dezember 2023

Buchkritik: “Crossroads” von Jonathan Franzen

"Crossroads" von Jonathan Franzen

Rezension: „Crossroads“ von Jonathan Franzen: Familie Hildebrandt steht am Scheideweg

Chicago, 23. Dezember 1971: Anstatt sich auf das Weihnachtsfest mit seiner Frau und den vier Kindern zu freuen, drehen sich die Gedanken von Pfarrer Russ Hildebrandt nur darum, wie er mit der attraktiven Witwe Frances eine Romanze beginnen kann.

Gemeinsam sitzen sie in seinem Kleinwagen und kämpfen sich über die schneebedeckten Straßen Chicagos, um Weihnachtsgeschenke zu einer armen Gemeinde zu bringen. Der 45-Jährige gibt alles, um Frances von sich zu überzeugen. Es wird peinlich.

Russ scheint in sich völlig verloren. In der Ehe mit seiner Frau Marion knirscht es auf vielen Ebenen und auch das Verhältnis mit seinen Kindern ist schwierig. Nun biedert er sich Frances regelrecht an. Die Todsünde „Wollust“ hat den Pfarrer ergriffen.

Aber nicht nur Vater Russ kämpft an diesem Tag vor Heiligabend mit seinem Leben. Auch Mutter Marion und die drei ältesten Kinder Clemens, Becky und Perry haben Probleme.

Autor Jonathan Franzen erzählt in „Crossroads“ nun abwechselnd aus den verschiedenen Perspektiven die Ereignisse am 23. Dezember und darüber hinaus. Das ist unfassbar spannend, tiefgründig und zog mich beim Lesen komplett in die USA der 1970er-Jahre.

Um was geht es in “Crossroads”?

„Crossroads“ ist der meisterhafte Auftakt einer Trilogie. Sie hätte definitiv nicht besser beginnen können. Jonathan Franzen hat mit wunderbarer Sprache solch facettenreiche Figuren geschaffen, dass es riesigen Spaß machte, immer wieder zum Buch zu greifen und zu erfahren, wie es weitergeht. Die 800 Seiten hatten keine einzige Länge.

Franzen schafft es, nicht nur die moralische Zerrissenheit seiner Figuren nachvollziehbar zu erzählen, sondern stellt auch den Zeitgeist der 1970er sehr lebendig dar. Religion, Vietnamkrieg, Rassismus, Identitätsfindung – all diese Aspekte baut Jonathan Franzen in „Crossroads“ ein, ohne dass es anstrengend oder sperrig wird.

Geister aus der Vergangenheit tauchen wieder ab

„Crossroad“ steht übersetzt für Scheideweg. Genau davor stehen die einzelnen Familienmitglieder an diesem Tag vor Heiligabend. Völlerei, Neid, Zorn und Hochmut. Es sind ganz unterschiedliche Todsünden, mit denen sie zu kämpfen haben.

Mutter Marion sitzt an diesem Tag bei ihrer griechischen Therapeutin, die sie gerne auch „Knödel“ oder „bezahlte Freundin“ nennt. Sie ist unzufrieden, hat sich in den vergangenen 20 Jahren mehr um ihre Kinder als um sich gekümmert. Die Folge: Marion ist dick geworden, ungepflegt und spürt, dass Russ dem Ehebruch nahe ist.

An diesem Tag erzählt sie ihrer Therapeutin, welch schwerwiegende Dinge sie Russ vor vielen Jahren beim Kennenlernen verschwieg. Es ist Erlebtes, das sie tief prägte und noch immer in ihr schlummert. Das Gespräch bei der Therapeutin bringt die verdrängten Erinnerungen wieder hoch. Marion ist verändert, als sie die Therapeutin verlässt.

Freiwillig in den Vietnam-Krieg

Der älteste Sohn Clemens kehrt am 23. Dezember heim, um seiner pazifistischen Familie Hiobsbotschaften zu bringen. Er hat sein Studium abgebrochen und aus moralischen Gründen seine Zurückstellung für das Militär aufgehoben. Nun droht ihm der Vietnamkrieg. Es ist eine Nachricht, die seine Eltern völlig erschüttert.

Ganz andere Probleme plagen seine Schwester Becky. Sie ist hübsch, klug und der Star an der Highschool. Am Abend zuvor hat sie den Musiker Tanner geküsst. Das Problem: Er ist seit Jahren in einer Beziehung mit Laura, mit der er gemeinsam in einer Band spielt. Am 23. Dezember haben sie einen wichtigen Auftritt, bei dem ein Musik-Agent zuhören möchte. Becky setzt Tanner aber unter Druck, möchte, dass er sich schnell von Laura trennt. Was wird passieren?

Im Drogensumpf gefangen

Definitiv die größten gesundheitlichen Probleme hat Perry. Der Jugendliche ist hochintelligent, psychisch aber alles andere als stabil. Er manipuliert sein Umfeld, verkauft Gras an seine Mitschüler und rutscht selbst immer mehr in den Drogensumpf. Da alle in der Familie aber so mit sich selbst beschäftigt sind, bleibt lange Zeit unerkannt, wie schwerwiegend Perrys Probleme sind. So steuert er nach und nach auf den Abgrund zu.

Wie kamen die Hildebrandts an den Scheideweg?

Das Spannende an „Crossroads“ ist, dass jede der fünf Geschichten perfekt ausgearbeitet ist. Im Laufe des Buchs lässt Jonathan Franzen seine Figuren an verschiedenen Stellen auch zurückblicken und erklärt so, warum sie überhaupt am Scheideweg angelangt sind.

Durch die ständigen Perspektivwechsel entsteht eine großartige Dynamik. Es ist möglich, die Gedanken der Figuren zu erfahren, aber auch die Außenwirkung ihres Verhaltens. Das gibt der Geschichte eine große Tiefe.

Wie wichtig ist Vergebung!

„Crossroads“ erzählt von menschlichen Verfehlungen, von Leid, Erniedrigung und Schwäche. Aber auch von Vergebung, Zusammenhalt und wie tief die Bande in einer Familie sind. Es hat mich so sehr bewegt, dass es definitiv mein Lieblingsbuch 2021 ist.

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2 thoughts on “Buchkritik: “Crossroads” von Jonathan Franzen

  1. Kaempf Susanne sagt:

    Sehr gute Buchbesprechungen von dir. Ich habe gerade „ Stay away from Gretchen“ zuende gelesen- und es ging mir wie der Kritikerin; Kitsch?- nein, ich war fasziniert von der Geschichte und der Hauptperson Greta. Viele Momente des Nachdenkens entstanden während der Lektüre.

  2. Gianni sagt:

    Ich habe in den letzten 45 Jahren mindestens 1000 Bücher gelesen. Crossroads von Jonathan Franzen würde ich für mich unter die besten 10 Bücher einreihen. Ich freue mich sehr auf die Fortsetztung.

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Hallo, ich bin Miriam

Stets bin ich auf der Reise: durch Karlsruhe, die Kultur und die Welt. Dabei begegnen mir immer wieder interessante Menschen, Bücher, Filme und anderer Krimskrams. Damit all diese Erfahrungen und Eindrücke nicht einsam in meinem Kopf schwirren, gibt es diesen Blog. Aus Grau wird Kunterbunt.

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