Buchkritik: „Das achte Leben (Für Brilka)“ von Nino Haratischwili
Rezension: „Das achte Leben (Für Brilka)“: Eine fulminante Reise durch das 20. Jahrhundert in Georgien
Wow, was für ein Wälzer. Als ich „Das achte Leben (Für Brilka)“ von Nino Haratischwili aus dem Versandkarton ziehe, staune ich kurz über den Umfang des Bestsellers. Es sind knapp 1300 Seiten, eine echte Herausforderung also.
Der Krieg in der Ukraine hat mich dazu bewegt, dem Ullstein-Verlag zu schreiben und um ein Rezensionsexemplar des im Jahr 2017 erschienen Romans zu bitten. In den vergangenen Wochen ist mir klar geworden, wie wenig ich über die Geschichte der ehemaligen Sowjetrepubliken weiß.
Ich schaue deshalb Dokumentationen in Mediatheken und beschließe, auch vermehrt Romane darüber zu lesen. „Das achte Leben (Für Brilka)“ ist nun der Anfang. Die Familiensaga umfasst das gesamte 20. Jahrhundert und gibt einen umfangreichen Einblick in das Leben der Menschen in Georgien und Russland – angefangen vom Sturz des russischen Zaren bis hin zum Zerfall der Sowjetunion.
Um was geht es in “Das achte Leben”?
Knapp drei Wochen habe ich zum Lesen des Buchs nun benötigt. Während ich mit den ersten 100 Seiten noch kämpfe, fällt es mir vor allem ab dem ersten Drittel deutlich leichter. Ich tauche völlig ein in die Geschichte und lese an Wochenenden teilweise 200 Seiten ohne Unterbrechung. Nino Haratischwili ist eine begnadete Erzählerin. Ihre Sprache ist zugänglich, lebendig und lässt mich mühelos eine Seite nach der anderen verschlingen.
Eine Gesellschaft lebt in Angst und Schrecken
Wie einen Teppich webt die Autorin nicht nur die Lebensgeschichten ihrer einzelnen Figuren zusammen, sondern fügt auch historische Fakten ein. Dadurch gelingt es ihr, ein umfassendes Bild der georgischen und russischen Gesellschaft zu zeichnen.
Es setzt sich zusammen aus Unterdrückung, Hass, Angst, Gewalt und Sprachlosigkeit. Mir wird klar: Der Zustand, in dem sich die russische Bevölkerung derzeit befindet, ist nur eine Wiederholung der Geschichte.
„Wie jedes andere totalitäre Land leidet auch Russland seit Jahrhunderten an Minderwertigkeitskomplexen – der allerschmerzlichste, gleichzeitig der tückischste ist wohl der eigene Imperialismus, daher war und ist die Empfindsamkeit für sozialistische Schriften und Denkmuster in Russland besonders groß.“
Oder:
„Und ich denke, es ist sowieso eine vorübergehende Angelegenheit. Diese Schwachsinnigen können nicht ewig an der Macht bleiben (…) Seit diese Idioten hier herumtoben, sind viele meiner Freunde ins Ausland geflohen oder sitzen versteckt in ihren Häusern, es ist ein wenig einsam um mich geworden.“
Das Leben der Familie Jaschi
Im Zentrum des Buches steht Niza Jaschi. Sie schreibt für ihre zwölfjährige Nichte Brilka die Familiengeschichte auf und blickt deshalb zurück. Brilka ist orientierungslos, sucht nach Halt. Indem sie Vergangenes erfährt, soll sie sich und ihr Leben besser verstehen können.
Niza beginnt ihre Erzählung mit ihrer Urgroßmutter Anastasia, der auch das erste Kapitel und damit das erste Leben gewidmet ist. Anastasia (Stasia) lebt bereits um 1900, ist begeisterte Tänzerin und Tochter eines wohlhabenden Schokoladenfabrikanten. Sie wird am Ende fast 100 Jahre alt und durchlebt ein düsteres Jahrhundert mit Erstem und Zweitem Weltkrieg, den Gräueltaten Stalins und den Entbehrungen in der Sowjetunion.
Stasias Kinder Konstantin und Kitty gehen durch diese Zeit auf sehr unterschiedliche Weise. Während Konstantin sich für das Militär entscheidet und regimetreu ist, verliebt sich Kitty in Andro. Er schließt sich im Zweiten Weltkrieg einer georgischen Gruppe an, die die deutschen Nationalsozialisten unterstützt. Um mehr über den Verräter zu erfahren, verhört eine Geheimdienst-Mitarbeiterin Kitty auf brutalste Weise. Die Wunden bleiben ihr Leben lang.
Interessante historische Fakten
Auch anhand Stasias wunderschöner Halbschwester Christine wird deutlich, wie schwer die Zeit vor allem für Frauen ist. Der „kleine große Mann“ zwingt sie zu einer Affäre. Es ist ein Synonym für Lavrentij Pavlovič Berija, Chef der Geheimdienste der Sowjetunion von 1938 bis 1953. Christine kann sich gegen den mächtigen Mann nicht wehren, fügt sich. Es bringt Unheil über die gesamte Familie.
Auch wenn an manchen Stellen die historischen Fakten nur kurz angerissen werden, finde ich es unglaublich interessant, Ereignisse wie den Zweiten Weltkrieg aus russischer und georgischer Sicht zu erfahren. Die jüdische Perspektive nimmt später eine Frau namens Fred ein, die Kitty in London kennenlernt.
Während des Lesens recherchierte ich immer wieder Fakten nach. Las mehr zu Lavrentij Pavlovič Berija oder Stalin. Auch über die Schlacht von Stalingrad wolle ich nochmals mehr wissen.
Märchenhaftes findet Platz
Es geht aber nicht nur realitätsnah zu. Immer wieder taucht über die mehr als 1200 Seiten ein spezielles Rezept für heiße Schokolade auf. Anastasia bekommt es von ihrem Vater geschenkt. Es ist die Basis für seine erfolgreichen Kuchen und Torten. Jedoch darf niemand diese Schokolade pur essen oder heiß trinken, sie darf nur Bestandteil von anderen Köstlichkeiten sein. Ansonsten bringt sie großes Unglück.
Dieses Element ist typisch für die Mentalität der Menschen in Georgien. Denn Nino Haratischwili erklärt bereits auf den ersten Seiten ihres Buchs:
„Bedenke auch, dass trotz einer tiefreichenden Identifikation mit dem lieben Gott (natürlich dem orthodoxen Gott und keinem anderen) es die Menschen dieses Landes nicht davon abhält, an alles zu glauben, was auch nur ansatzweise märchenhaft, geheimnisvoll oder legendär anmutet.“
Viel Drama, aber kein Kitsch
„Das achte Leben“ ist insgesamt ein Roman, der mich bereichert und sehr gut unterhalten hat. An der ein oder anderen Stelle ist das persönliche Drama einzelner Figuren zwar etwas groß geraten und die Wiederholung vom Schicksals Andros und seiner Familie schon vorhersehbar. Aber tatsächlich kann ich mir vorstellen, dass die große Sprachlosigkeit und die unverheilten Wunden sich von Generation zu Generation auch im realen Leben forttragen.
Auch sind die Figuren sehr facettenreich. Vor allem die Gegensätze zwischen den einzelnen Geschwisterpaaren, die trotz aller Unterschiedlichkeit durch die Familienbande eben doch ein Leben eng verbunden sind, bringt immer wieder Dynamik in die Handlung. Nino Haratischwili schafft es außerdem immer noch rechtzeitig die Kurve zu finden, bevor es kitschig oder gefühlsduselig wird.
Mein Wunsch war es, durch „Das achte Leben“ mehr über Georgien, Russland und die ehemalige Sowjetunion zu erfahren. Er hat sich definitiv erfüllt. Ich finde, er bietet sich außerdem perfekt an, um als Mini-Serie in Szene gesetzt zu werden.
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