Buchkritik: Die Möglichkeit von Glück” von Anne Rabe

Rezension von “Die Möglichkeit von Glück”: so gehypt, so eine Enttäuschung
Meine Vorfreude ist groß, als ich „Die Möglichkeit von Glück“ zu lesen beginne. Schließlich habe ich schon so viel Gutes über den Roman von Anne Rabe gehört. Er stand unter anderem auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis 2023. Viele Kritiker*innen überschlugen sich mit Lob, beschrieben ihn als DEN Roman über die Menschen in Ostdeutschland. Deren Biografien würden dadurch verständlicher, meint etwa der Autor und Musiker Henrik Bolz. Es sei das Buch der Stunde, schrieb Ronald Düker in der „Zeit“.
Deshalb bin ich sehr gespannt, wie der Blick von Anne Rabe auf die DDR und Ostdeutschland ist. Doch je länger ich „Die Möglichkeit von Glück“ lese, desto enttäuschter werde ich. Ich verstehe den Hype um dieses Buch überhaupt nicht.
Um was geht es in „Die Möglichkeit von Glück“?
Anne Rabe erzählt in „Die Möglichkeit von Glück“ die Geschichte von Stine. Wie Anne Rabe selbst wurde Stine drei Jahre vor dem Mauerfall geboren. Wie viel von ihrer eigenen Biografie in den Roman eingeflossen ist, bleibt unklar.
Als ich während des Lesens immer wieder stoppe, um im Internet zu recherchieren, finde ich nur wenige Details aus dem Privatleben von Anne Rabe. So kann ich nur vermuten, dass sie wie die Hauptfigur Stine einen Bruder hat und den Kontakt zu ihren Eltern abgebrochen hat.
„Mutter sagt: „Gib ihr mal ‘ne Kopfnuss.“
Sie sitzt dir gegebenüber und Vater neben dir auf der Sitzbank um den Küchentisch. Mit seiner Rechten wird er gleich ausholen. Tim isst weiter. Er sitzt zwischen Mutter und Vater in der Ecke der Bank.
„Gib ihr mal ‘ne Kopfnuss.“
Du hast gekleckert. Schon wieder. Der Spinat ist auf dein Kleid gefallen, und wer soll das eigentlich alles waschen?
Du hast gesagt: Es war keine Absicht. „Wäre ja auch noch schöner“, sagt er.
(…)
Zack, Vater hat ausgeholt. Knack, macht es in deinem Kopf. Zack und knack.
(…)
Geburtstagskerzen, Familienfeste, Ferienlager.
So von außen sieht es schön aus, aber wenn ich einmal hineintrete, entfaltet sich vor mir ein düsteres Labyrinth. Es hat keinen Ausgang.“
Sprachlosigkeit und Gewalt in der Familie
„Die Möglichkeit von Glück“ ist ein sehr düsterer Familienroman. Die Protagonistin Stine ist Mitte 30, lebt in Berlin und ist Mutter eines Sohnes und einer Tochter. Sie blickt zurück auf eine Kindheit in Mecklenburg, die von Sprachlosigkeit und Gewalt geprägt ist. Vor allem ihre Mutter tritt immer wieder tyrannisch auf. Schläge gehören zum Alltag.
Hinzu kommen sadistische Handlungen. So setzte Stines Mutter ihre kleinen Kinder in der Badewanne absichtlich in viel zu heißes Wasser. Stine erinnert sich als Erwachsene noch genau daran. Der Vater verhält sich oft passiv, zieht meist mit der Mutter mit, beschützt Stine und ihren Bruder viel zu selten.
Welche Rolle hatte Stines Großvater in der DDR?
Mit ihrem Großvater Paul Barlow verbindet Stine aber auch zärtliche Gefühle. Doch nach seinem Tod fragt sie sich: Welche Rolle spielte er in der ehemaligen DDR? Paul Barlow hatte selbst eine schwere Kindheit, kämpfte im Zweiten Weltkrieg an der Ostfront und war danach vom Sozialismus in der DDR begeistert. Er arbeitete sich im System bis zum Dozenten für Hochschulpädagogik hoch. Ein Satz, den sich Stine oft von ihm anhören muss:
„Wir kamen aus dem Krieg, Stinchen, wir wollten nur eins – nie wieder Faschismus.“
Akribische Spurensuche
Da es überraschenderweise keine Stasi-Akten über ihren Großvater gibt, begibt sich Stine auf eine komplexe Spurensuche, um mehr über ihre Familiengeschichte herauszufinden. So vermischen sich in „Die Möglichkeit von Glück“ verschiedene Stile: Zu Stines Erzählungen gesellen sich Archivauszüge und politische Episoden. Das ist grundsätzlich interessant, auf Dauer aber trocken und zäh.
Ich muss mich nach der Hälfte des Buch zwingen, weiterzulesen. Das ist für mich selbst überraschend. Schließlich finde ich die Geschichte rund um die DDR und Ostdeutschland sehr spannend – auch aus soziologischer Sicht. Deshalb müsste die literarische Form mich eigentlich bestens unterhalten. Tut sie nur nicht. Ich lese trotzdem weiter und wartete darauf, dass mich der Roman vielleicht gegen Ende doch noch begeistert.
Was ist anekdotische und was empirische Evidenz?
Aber: Der Funke springt nicht mehr über. Der Roman bleibt für mich eine komische Mischung aus Fakten und Fiktion. Wie viel von Stines Kindheit tatsächlich repräsentativ für den Osten ist, bleibt für mich unklar.
Das soll Stines dramatische Geschichten in der Kindheit nicht schmälern. Das Leben in der DDR war bestimmt für viele Menschen traumatisch. Anne Rabe führt auch an, dass die Kindstötungen im Osten Deutschlands in den 90er-Jahren und 00er-Jahren doppelt so hoch waren wie im Westen, 2006 sogar viermal so hoch.
Nur ob auch die strukturelle Gewalt in Familien und Bildungseinrichtungen in der DDR wirklich so viel ausgeprägter war, dazu würden mich nun repräsentative Studien interessieren. Das erwarte ich grundsätzlich zwar gar nicht von einem Roman, aber bei „Die Möglichkeit von Glück“ verschwimmen eben die Grenzen von anekdotischer und empirischer Evidenz.
Auch in Westdeutschland gab es viele Familien, in denen in der Nachkriegszeit Traumata und Sprachlosigkeit herrschten. Vor allem Väter erzogen ihre Kinder mit physischer Gewalt. Unter anderem steht Edgar Selges Buch exemplarisch dafür. Oder die katholischen Internate im Westen: Dort waren Züchtigung und sexueller Missbrauch keine Seltenheit.
Keine Überraschungen in „Die Möglichkeit von Glück“
Angst vor Nazis, Diskrimierung von queeren Menschen, der Zusammenbruch von vielen Berufsbiografien nach der Wende: Auf all das geht Stine auch ein. Das ist interessant, aber für mich sind das keine neuen Informationen. Auch als am Ende das Leben von Paul Barlow in großen Teilen enthüllt ist, entsteht bei mir keine Spannung oder keine große Überraschung mehr.
Tatsächlich weiß ich nicht, wie ich dem Buch begegnet wäre, hätte ich die vielen Superlative vorher nicht gelesen. So ist aber die Frustration groß. Das soll es wirklich sein? DAS Buch über Menschen über Ostdeutschland. Hmmmm.
Fazit zu „Die Möglichkeit von Glück“: keine Weiterempfehlung
Mein Fazit ist deshalb: Wer sich für die Fakten der DDR und den Osten Deutschlands interessiert, liest besser ein Sachbuch von Soziologe Stefan Maue. Wer einen Roman darüber möchte, greift zu „Gittersee“ von Charlotte Gneuß.
Auch der international ausgezeichnete Roman „Kairos“ soll das Lebensgefühl der Menschen in der DDR gut transportieren. Das Buch von Jenny Erpenbeck habe ich selbst noch nicht gelesen, steht aber auf meiner Liste. „Die Möglichkeit von Glück“ ist dagegen für mich kein Roman zum Weiterempfehlen.
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Mich hat das Buch “die Möglichkeit von Glück” unglaublich berührt und es macht mich traurig, dass du es so klar nicht empfiehlst. Klar ist der Schreibstil anstrengend. Aber er repräsentiert ihre gedanklichen Schwierigkeiten in der Auseinandersetzung mit den eigenen Verletzungen, dem Schweigen und ihrer Verstrickung in das Thema. Es ist nicht der Anspruch der Autorin das Leid, dass sie vermutlich erfahren hat, mit dem Leid der Menschen die in damaligen Westdeutschland Leid in ihrer Kindheit erfahren haben zu vergleichen. Ich bin bis ich 6 war in der ehemaligen DDR aufgewachsen und in mir rührt der Roman viel an, obwohl ich nicht als Kind tyrannisiert wurde. Aber Sprüche der schwarzen Pädagogik, die bis heute auch heute noch in der “Bild” Zeitung zu lesen sind oder in Talkshows, kenne ich aus meiner Kindheit.”jetzt reiß dich zusammen!” Es ist wichtig, sich damit auseinander zu setzen. Wenigstens in dieser Generation. Denn die Generation davor reagiert mit “ja willst du denn sagen, dass wir alles falsch gemacht haben??!” Ich erkenne seelische Verletzungen bspw. meiner Cousine oder Schwester als Folgen der Erziehung zu einem “guten sozialistischen Menschen.”
Ich glaube dieses Buch tut weh, aber manchmal muss man in alten Wunden stochern, die längst zu Narben geworden sind, um zu verhindern, dass man das unbewusst weitergibt. Ich bin jedenfalls gerade bewusster mit bestimmten Sätzen, die mir im Stress gegenüber meiner Tochter schon mal von den Lippen gekommen sind. Und ich habe das Buch schon einigen empfohlen, die mit den psychischen Folgen der Erziehung Schwierigkeiten haben. Ja, die sind auch in Ostdeutschland aufgewachsen.
Liebe Anne, danke für dein Feedback. Leider kann ich nur ehrlich schreiben, wie es mir beim Lesen erging. Und ich kenne eben auch viele Menschen, die in Westdeutschland in konservativen Familien aufwuchsen und sich auch sehr zusammenreißen mussten und geschlagen wurden. Deshalb bin ich mir einfach unsicher, ob solch eine Erziehung ein Alleinstellungsmerkmal für ostdeutsche Familien ist. Aber danke, dass du so ausführlich deine Gedanken hier schreibst, eventuell motiviert das ja auch andere Menschen das Buch trotzdem zu lesen ☺️