Buchkritik: “4321” von Paul Auster
Besser geht es nicht: “4321” von Paul Auster – Rezension
Als ich nach 1259 Seiten von Archibald Ferguson Abschied nehme, bin ich zutiefst traurig. Knapp drei Monate hat mich „4321“ am Feierabend und am Wochenende begleitet, vorrangig zuhause, da ich den schweren Schmöker im Rucksack nicht durch die Welt schleppen wollte. Es war wie eine Sucht. Wann immer ich Zeit hatte, wollte ich wissen, wie es Archie geht, was er erlebt, wie er mit all den vielen Herausforderungen des Lebens klarkommt.
Das Besondere an diesem Buch: Autor Paul Auster lässt seinen jungen Protagonisten gleich viermal durchs Leben stolpern – mit unterschiedlichen Rahmenbedingungen. Nach dem Prinzip: Was wäre passiert, wenn…? Paul Auster ist damit ein außergewöhnliches Buch geglückt. Nicht nur diese Konzeption ist hochspannend, sondern auch der Inhalt ist so berührend und bereichernd, dass ich am Ende dankbar war, dass ich diese meisterhafte Literatur lesen durfte – und dadurch so viele neue Gedanken zum Leben bekommen habe. Besser geht es nicht.
Es ist eine Herausforderung!
„4321“ zu lesen, ist aber keinesfalls ein Selbstläufer. Obwohl Paul Auster sehr gradlinig schreibt, sind seine einzelnen Sätze stellenweise so dicht bepackt mit Informationen, dass mir der Kopf schwirrte. Literatur, Filme, Philosophie, Bildende Kunst, historische Ereignisse: Der Schriftsteller beweist mit zahllosen Referenzen sein großes Wissen. Meine Liste an Klassikern, die ich nun noch lesen und anschauen möchte, ist dadurch enorm gewachsen.
Vier Versionen von Fergusons Leben
Archie Ferguson kommt am 03. März 1947 auf die Welt. Sein Vater Stanley stammt aus einer armen Einwanderfamilie, seine Mutter Rose aus dem jüdischen liberalen Mittelstand. Schon als kleiner Junge macht sich Ferguson folgende Gedanken:
„Was für ein interessanter Gedanke (…) sich vorzustellen, wie für ihn alles anders sein könnte, auch wenn er selbst immer derselbe bliebe. Derselbe Junge in einem anderen Haus mit einem anderen Baum. Derselbe Junge mit anderen Eltern. Derselbe Junge mit denselben Eltern, die aber nicht die dieselben Dinge täten.“
Durch einen besonderen Vorfall im ersten Kapitel entwickelt sich das Leben von Archie Ferguson in sehr unterschiedliche Richtungen: Sein Vater gerät wegen seiner zwei Brüder in eine missliche Situation. Sie geht viermal anders aus, daraufhin entstehen folgende Konstellationen:
- Version 1: Archie Ferguson wächst in einem gutbürgerlichen Umfeld auf.
- Version 2: Unsicherheiten, Ängste und Unfälle prägen sein Leben.
- Version 3: Statt in einer heilen Welt wächst Archie mit einer alleinerziehenden Mutter auf und gerät immer wieder in schwierige Situationen.
- Version 4: Er ist ein selbstreflektierter und zielstrebiger Mensch, der zunächst im Reichtum, später mit Geldsorgen konfrontiert ist. Sein Wunsch, Schriftsteller zu werden, steht stark im Fokus.
Gemeinsam haben alle vier Lebensentwürfe, dass er sich für Literatur, Politik, Baseball und Basketball interessiert. Außerdem ist Amy Schneidermann eine Konstante. Die junge Dame tritt auf unterschiedliche Wege in sein Leben und bringt ihn jedes Mal zum Schwärmen.
Auch mit seiner Mutter Rose hat Ferguson stets ein gutes und inniges Verhältnis. Die Liebe zu Frankreich und Paris taucht ebenfalls in jedem der vier Entwürfe auf. Das Schreiben hilft ihm außerdem immer, die Unordnung in der Welt besser zu begreifen, sie zu strukturieren und mit ihr umgehen zu können. Mal als Journalist, mal als Übersetzer, mal als Schriftsteller.
Eine Reise durch die USA der 1950er- und 1960er-Jahren
Die Ermordung Kennedys, der Vietnam-Krieg, die Studentenproteste, Rassismus: „4321“ umreißt alle wichtigen historischen Ereignisse der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in den USA. Das Werk von Paul Auster ist dadurch nicht nur ein unterhaltender Roman, sondern streckenweise eine spannende Dokumentation von wichtigen gesellschaftlichen Ereignissen. In Bezug auf die Polizeigewalt gegenüber dunkelhäutigen Menschen ist es erschreckend, wie wenig sich in den vergangenen 60 Jahren verändert hat.
Eine sprachliche Wucht!
Es ist eine Wohltat, die klugen und durchdachten Sätze von Paul Auster zu lesen. Zutiefst beeindruckt bin ich beispielsweise davon, wie er es schafft, einen einzigen Satz über eine halbe Seite anwachsen zu lassen – ohne ihn dabei zu verlieren. (S. 1190). Oder wie er das Denken eines Anführers einer Studentenbewegung mit einem Jazzmusiker vergleicht:
„Als Anführer der SDS wurde Mark Rudd zu einem Jazzkünstler, und je länger die Besetzung der Gebäude andauerte, desto eindrucksvoller war es für Ferguson zu sehen, wie geschmeidig sich Rudd auf jede neue Lage einstellte, wie schnell er reagierte, wie offen er immer wieder über alternative Ansätze zur Krisenbewältigung diskutierte.“
Außerdem lässt er seinen Protgonisten in einer Version eine skurrile Kurzgeschichte über zwei Schuhe schreiben, die im Buch komplett nachzulesen ist – wie auch die Übersetzung von französischen Gedichten, die Ferguson in einem anderen Lebensentwurf übersetzt. “4321” blüht dadurch voller Kreativität.
Wie viel von Paul Auster steckt in Ferguson?
Schon während des Lesens von „4321“ fragte ich mich oft: Wie viel von Archie Ferguson steckt in Paul Auster? Als ich im Internet zu recherchieren begann, machte es schnell klick. Paul Auster ist nur ein Monat später als Archie geboren, ebenfalls Jude, auch er liebte die französischen Dichter und lebte für einen Monat in Paris. Wie sein Protagonist wuchs Paul Auster in Newark, New Jersey, auf, zog dann nach New York. Der Schriftsteller begann bereits wie Archie Ferguson als Heranwachsender Aufsätze sowie Gedichte zu schreiben – und er liebte Basketball und Baseball.
„4321“ liest sich dadurch wie ein buntes Kaleidoskop von Paul Austers eigener Lebensgeschichte. Als hätte er sein eigenes Leben in vier Varianten bunt gedacht und literarisch ausgeschmückt. Die letzten fünf Seiten verstärken diesen Eindruck.
Das Ende ist eines der schönsten, das ich mir für Literatur wünsche. Es kommt so unvorhersehbar, bringt nochmals eine neue Perspektive in die Handlung und ist so rund geworden, dass ich völlig gerührt auf meinem Sofa saß. Wie schön kann Lesen sein. Danke, Paul Auster.
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