11. November 2024

Buchkritik: “Wellness” von Nathan Hill

Buchkritik: "Wellness" von Nathan Hill

Rezension von “Wellness”: ein toller Roman über die Themen unserer Zeit

Als ich zum ersten Mal von „Wellness“ hörte, wusste ich sofort: Dieses Buch muss ich haben. Ein Gesellschaftsroman à la Jonathan Franzen, der verschiedene Jahrzehnte erfasst und anhand seiner Protagonist*innen die wichtigen Fragen unserer Zeit verhandelt.

Konkret: Wie bleibt die Liebe nach vielen Jahren lebendig, wenn die erste Romantik verflogen ist, die Frau beruflich erfolgreicher ist als der Mann und ein Kind enorme Energien bindet? Helfen dann polyamore Abenteuer und Achtsamkeitsseminare? Und sind Tracking-Armbänder wirklich eine gute Idee, um sein Leben im Griff zu behalten?

All das bringt der amerikanische Autor Nathan Hill in seinem Werk „Wellness“ auf unglaublich unterhaltsame und kluge Weise zusammen. Obwohl der Roman fast 800 Seiten umfasst, habe ich mich keine Sekunde gelangweilt und hätte gerne noch ein paar Kapitel weitergelesen. Die stolzen 28 Euro für die Hardcover-Ausgabe habe ich keine Sekunde bereut.

Worum geht es in „Wellness“?

Im Mittelpunkt von „Wellness“ steht das Ehepaar Elizabeth und Jack, eine Psychologin und ein Fotokünstler. Nach rund 20 Jahren ist ihre Beziehung am Ende – was vor allem an Elizabeth liegt, die inzwischen lieber allein schläft und bei der Gestaltung der neuen Eigentumswohnung sicherheitshalber gleich mitplanen lässt, wie zwei getrennte Parteien darin leben könnten.

Dabei hatte Anfang der 1990er-Jahre alles so romantisch begonnen: Beide sind zum Studium nach Chigaco gekommen. Zufällig wohnen sie in zwei gegenüberliegenden Wohnungen und beobachten sich zunächst heimlich. Als sie sich irgendwann in einem Club treffen, funkt es sofort. Sie kommen zusammen und sind lange Zeit sehr glücklich – obwohl sie aus zwei sehr unterschiedlichen Milieus kommen.

Jacks Karriere stagniert

Vor allem Jack hat es in seinen 40ern schwer. In den 1990er-Jahren war er ein kleiner Star in der Künstler*innen-Szene Chigacos. Eine seiner Ausstellung ist damals ein riesiger Erfolg gewesen. Gleich nach dem Studium bekommt er einen Lehrauftrag an der Universität für Einführungskurse. Es ist eine Teilzeitstelle, um die ihn mit Mitte 20 viele beneiden.

Doch zwei Jahrzehnte später hat sich das Blatt gewendet: Die Universität stellt keine Vollzeitprofessoren mehr ein, Jacks Karriere stagniert und droht nun sogar zu scheitern: Der Finanzchef möchte mit Hilfe eines sogenannten Wirkung-Algorithmus ermitteln, wie relevant die Arbeit ihrer Mitarbeitenden für die Uni ist. Das heißt:

„Der Wirkung-Algorithmus ist ein Werkzeug, das den Gesamtwert der Beiträge jedes Mitarbeiters ermittelt“, sagt der Finanzchef, und dann erscheint auf dem Bildschirm eine Liste von Dingen, die man in den sozialen Medien tut, und daneben steht, was diese Dinge wert sind:
Auf Facebook geteilt: 4 Dollar
Auf Facebook geliked: 19 Cent
Instagram-Follower: 2 Cent
Twitter Erwähnung: 30 Cent
Normaler Retweet: 30 Cent
Prominenter Retweet (z.B. Kardashian): 4.650 Dollar.

Das Gehalt eines Universitätsmitarbeitenden hängt nun also davon ab, wie viel Reichweite er oder sie in den sozialen Medien hat. Für Jack, der selten etwas auf Facebook und Co. postet, ist das eine Katastrophe.

Elizabeth möchte die Ehe öffnen

Für Elizabeth läuft dagegen alles nach Plan. Sie hat Psychologie studiert und leitet heute erfolgreich ein Forschungsinstitut, das sich auf den Placebo-Effekt spezialisiert hat. „Wellness“ heißt es. Dort hat sie unter anderem ein Placebo für schlecht laufende Beziehungen entwickelt.

Doch für die Probleme in ihrer eigenen Familie hat sie noch kein Rezept gefunden. Vor allem kämpft sie mit der Erziehung ihres Sohnes Toby, der autistische Züge hat. Seit er auf der Welt ist, hat sich ihr Leben grundlegend verändert:

Als Toby geboren wurde, verstand Elizabeth endlich, warum ihre Freunde verschwunden waren. Sie war verblüfft, wie ihre Prioriäten sich verschoben, sogleich und unvermittelt. Jede Tätigkeit, die nicht Tobys Sicherheit und Wohlbefinden diente, erschien ihr wie eine Ablenkung oder Unterbrechung. Zerknirscht musste sie sich eingestehen, dass ein abendlicher Besuch von Freunden, die Martinis trinken und sich unterhalten wollen, nicht direkt unwillkommen, aber eigentlich nicht besonders wichtig war.

Aber sie zweifelt auch an ihrer Ehe und möchte deshalb ihre Beziehung öffnen. Jack ist von dieser Idee nicht begeistert, tut ihr aber den Gefallen, um die Beziehung zu retten. Ob das gelingt, ist mehr als fraglich.

“Wellness”: ein großes Lesevergnügen

Nathan Hill ist mit „Wellness“ ein Roman gelungen, der den Zeitgeist unglaublich gut einfängt. Er erzählt die Geschichte nicht kontinuierlich, sondern aus verschiedenen Perspektiven und geht auch in die Kindheit von Jack und Elizabeth zurück. Dadurch erklärt sich ihr heutiges Verhalten immer mehr. Dieses Konzept hat mir besonders gut gefallen, weil es die Spannung die ganze Zeit über aufrechterhält.

Auch die Sprache finde ich super. „Wellness“ liest sich leicht, ist aber trotzdem tiefgründig und sehr intelligent. Durch Elizabeth fließen immer wieder viele psychologisch interessante Details ein.

Neben den spannenden Protagonist*innen Jack und Elizabeth hat Nathan Hill mit Brandie außerdem noch eine illustre Nebenfigur geschaffen, die exemplarisch für die Frauen steht, deren Familienleben so perfekt erscheint, bei genauerem Hinsehen aber ein Desaster ist.

Ich habe “Wellness” deshalb sehr gerne gelesen und werde mir nun noch das erste Buch von Nathan Hill zulegen: “Geister”. Für mich waren die knapp 800 Seiten nämlich tatsächlich eine wahre Wohltat.

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Hallo, ich bin Miriam

Stets bin ich auf der Reise: durch Karlsruhe, die Kultur und die Welt. Dabei begegnen mir immer wieder interessante Menschen, Bücher, Filme und anderer Krimskrams. Damit all diese Erfahrungen und Eindrücke nicht einsam in meinem Kopf schwirren, gibt es diesen Blog. Aus Grau wird Kunterbunt.

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