Buchkritik: „Mädchen, Frau, etc.“ von Bernadine Evaristo
Rezension: Eines der wichtigsten Bücher der Gegenwart ist „Mädchen, Frau, etc.“
Es ist der Tag der großen Premiere: Amma ist auf dem Weg zum „National Theatre“ in London, wo am Abend ihr Stück „Die letzte Amazone von Dahomey“ zum ersten Mal aufgeführt wird. Es ist ein Meilenstein im Leben der Regisseurin. In ihren 50ern ist sie nun, Jahrzehnte des Kämpfens liegen hinter ihr.
Homosexuell, dunkelhäutig, allerziehend, weiblich: Amma verkörpert gleich mehrere Eigenschaften, die für eine Karriere in der Upperclass wenig förderlich sind. Ihr Weg zum angesehenen Theater: keineswegs gradlinig.
Vom Traum, selbst Schauspielerin zu werden, verabschiedet sie sich in den 1980er-Jahren, als sie bemerkt, wie wenig Rollen sie als Frau mit nicht-weißer Hautfarbe überhaupt spielen darf.
Resigniert davon, wechselt sie die Seiten, schreibt eigene Stücke, baut mit ihrer Freundin Dominique eine Theatertruppe auf, mit der sie viele Jahre durch England touren, in Bibliotheken und Stadtteilzentren auftreten. Später macht Amma sich alleine selbstständig.
Nun ist also die große Premiere am „National Theatre“, sieben Kaffee hat sie bereits getrunken, die Aufregung ist groß. Wird alles gut gehen?
Zwölf Frauen, zwölf Schicksale
Die Geschichte von Amma ist eine von zwölf Erzählungen, die Autorin Bernadine Evaristo in ihrem Roman „Mädchen, Frau, etc.“ vereint. Jede einzelne davon handelt vom Leben schwarzer britischer Familien – immer erzählt aus der Perspektive einer Frau, alle mit einem losen Faden miteinander verbunden.
„Mädchen, Frau, etc.“ ist ein sehr besonderes Buch. Es ist unglaublich klug, vielseitig, gefühlvoll und horizonterweiternd. Bereits nach den ersten Seiten war ich total verliebt. Bernadine Evaristo hat es geschafft, die brennendsten Fragen unserer Gegenwart differenziert in dem Roman aufzugreifen. Sie entführte mich in fremde Welten und eröffnete mir neue Perspektiven.
Rassismus, Feminismus, Transsexualität. Mit den Lebensgeschichten ihrer Protagonisten gibt sie Einblick in die Kämpfe, Sehnsüchte und Schmerzen, die das Leben bereithält – aber auch in die guten Momente, die Hoffnung machen.
Eine Geschichte ohne Schlusspunkt
Äußerst interessant an „Mädchen, Frau, etc.“ ist aber nicht nur der Inhalt, sondern auch die Sprache. Bernadine Evaristo hat eine Mischung aus Prosa und Versen geschaffen. Einen Punkt am Ende des Satzes gibt es bei ihr nicht. Stattdessen beginnt eine neue Zeile, wenn ein Satz endet – wenn nicht mit einem Substantiv beginnend, konsequent kleingeschrieben. Ihre Sprache ist bewegt, voller Leben, wunderbar zu lesen.
Großbritannien, Nigeria, USA: Die Geschichten spielen in den unterschiedlichsten Regionen. Die jüngste Protagonistin ist 19, die älteste 93 Jahre alt. Eine Geschichte führt sogar zurück in die Anfänge des 20. Jahrhunderts, erzählt von Grace, die bereits verstorben ist. So sind die Lebenswelten komplett unterschiedlich.
Einblick in die “woke”-Perspektive
Die jüngste Frau, Yazz, ist die Tochter von Amma. Sie ist mit ihren Freundinnen bei der Premiere von Ammas Stück. Für sie ist der Feminismus bereits out. Ihrer Mutter erklärt sie das so:
Feminismus ist doch voll die Herdennummer (…), ganz ehrlich, heute ist es sogar schon durch, eine Frau zu sein, neulich hat uns bei der Uni diese nicht-binäre Aktivistenperson gesprochen, Morgan Malenga, das war der mega Eye-Opener für mich, ich denke, in Zukunft sind wir irgendwann alle nicht-binär, weder männlich noch weiblich, was ja alles sowieso nur Genderperformance ist, und das heißt dann auch, Mumsy, dass deine Frauenpolitik überflüssig wird, abgesehen davon bin ich Humanistin, das spielt sich auf einer viel hören Ebene ab als Feminismus.
Yazz ist „woke“, hat also ein erhöhtes Bewusstsein für Rassismus und gesellschaftliche Privilegien. Jedoch in keinem extremen Ausmaß, sondern sehr rational, differenziert. Ich erfuhr dadurch von vermittelnden Ansichten aus schwarzer Perspektive, die ich bislang in den derzeit sehr scharfen öffentlichen Rassismus-Diskussionen noch nicht gehört hatte.
Bernadine Evaristo lässt ihre Charaktere beispielsweise solche Dinge sagen:
Roxane Gay warne vor „Olympischen Spielen der Privilegien“ (…) Privilegien seien immer relativ und vom Kontext abhängig (…) wo endet das denn sonst? Ist Obama weniger privilegiert als ein weißer Hillbilly, der bei seiner drogenabhängigen Mutter in einem Trailerpark aufwächst, während der Vater im Knast sitzt? (…) wir brauchen einen neuen Diskurs, um über Ungleichheit zu diskutieren.
Zur Diskussion, dass es rassistisch sei, Wörter wie Schwarzmaler, Schwarzseher oder Schwarzfahrer zu verwenden, sagt Amma:
die afrikanischen Völker seien erst als Schwarze bezeichnet worden, als es dieses Wort in der englischen Sprache schon längst gab, es sei also Unsinn, seiner Alltagsverwendung rückwirkend rassistische Konnotationen anzudichten, und wenn du das trotzdem tust, machst du dich nur verrückt und, mit Verlaub, auch dein gesamtes Umfeld.
Rassismus lauert überall
Gleichwohl: Wie hart das Leben als dunkelhäutige Frau in Großbritannien oft ist, wird in allen Geschichten sehr deutlich. Ausgrenzungen, Beschimpfungen, Vergewaltigungen gehören zum Alltag.
Sehr berührt hat mich die Geschichte von Bummi, die in Nigeria beide Elternteile verliert. Ihr Vater Moses war in die Luft geflogen, nachdem er illegal Benzin hergestellt hatte, ihre Mutter stirbt Jahre später bei der harten Arbeit im Sägewerk. Bummi schafft es trotzdem auf die Uni, verliebt sich dort und wandert mit ihrem Mann nach London aus.
Von einem besseren Leben träumen die Akademiker. Doch die Realität holt sie schnell ein. Während Bummis Mann nur als Taxifahrer arbeiten kann, wird sie Putzfrau. Sie gibt aber nicht auf, kämpft für eine bessere Zukunft, für sich und ihre Tochter Carole.
Morgan ist nonbinär
„Mädchen, Frau, etc.“ ist außerdem das erste Buch, das ich gelesen habe, in dem es um einen nonbiären Menschen geht: um die fiktive Aktivistenperson Morgan Malenga. Da sie weder mit „er“ noch „sie“ angeredet werden möchte, ist bei ihr im Buch von „sier“ die Rede. Für mich ist dieses Kapitel ein Ausflug in eine bislang noch relativ unbekannte Welt – eine spannende Erfahrung.
Bald mehr Bücher von Bernadine Evaristo auf Deutsch?
Aufgrund dieser vielseitigen Facetten ist „Mädchen, Frau, etc.“ eines der wichtigsten Bücher unserer Gegenwart, finde ich. Es bereichert ungemein und ist wunderbar zu lesen. Auch das Ende ist unvorhersehbar und hat mich glücklich, aber auch nachdenklich die letzte Seite umschlagen lassen.
Bernadine Evaristo hat für ihr Buch als erste schwarze Schriftstellerin den „Booker Award“ bekommen. Völlig zurecht. Inzwischen sind auch weitere Bücher von ihr ins Deutsche übersetzt: “Mr Loverman” und “Zuleika“.
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