Buchkritik: “Ich bleibe hier” von Marco Balzano
Buchkritik von “Ich bleibe hier”: Wie kam es zur versunkenen Kirche in Südtirol?
Eher zufällig bin ich auf „Ich bleibe hier“ von Marco Balzano gestoßen. Eine Buchhändlerin hat das Buch im „Zeit“-Podcast „Und was machst du am Wochenende?“ empfohlen. Ohne viel über den Inhalt zu wissen, wünsche ich mir den Roman zum Geburtstag, bekomme ihn geschenkt und beginne ohne große Erwartungen zu lesen.
Doch schon nach den ersten Seiten ist meine Überraschung groß: Marco Balzano erzählt in „Ich bleibe hier“ eine unglaublich interessante Geschichte in einer sehr eingängigen Sprache. Ohne große Anstrengung flitze ich in zwei Tagen durch das Buch und klappe es am Ende begeistert zu.
Marco Balzano hat es geschafft, mir die traurige und wahre Geschichte der versunkenen Kirche in Reschen am See (Südtirol) ohne Anstrengung näher zu bringen. Seit ich „Ich bleibe hier“ gelesen habe, stehen Südtirol und das kleine Dorf auf meiner Reiseliste. Wahrscheinlich werde ich dort nur nicht allein sein. Der Kirchturm, der dort so kurios aus dem See ragt, ist mittlerweile ein beliebtes Motiv auf Instagram.
Worum geht es in „Ich bleibe hier“?
Im Roman erzählt Trina die Geschichte der versunkenen Kirche von Reschen am See. Sie wurde Anfang des 20. Jahrhunderts in dem kleinen Südtiroler Dorf geboren und hat dort ihr Leben verbracht. Sie erzählt das Geschehene rückblickend schriftlich – adressiert an ihre Tochter Marica, zu der sie seit vielen Jahren keinen Kontakt mehr hat. Warum das so ist, wird am Ende des ersten Teils des Buches deutlich.
Trina ist eine pragmatische und intelligente Frau.
„Männer haben mich nie interessiert. Die Vorstellung, Liebe könnte etwas mit ihnen zu tun haben, fand ich lächerlich. Für mich waren sie zu plump oder zu behaart oder zu grob. Manchmal alles zusammen. Hier in der Gegend besaßen die meisten ein Stück Land und etwas Vieh, und das war der Geruch, den sie mit sich herumtrugen. Stall und Schweiß.“
Erich ist der Einzige, für den sie sich interessiert. Er hat immer seine Mütze tief ins Gesicht gezogen und geht mit einer Zigarette im Mundwinkel an ihrem Haus vorbei. Sie hat Glück: Auch er mag Trina.
Mit Mussolini ändert sich das Leben in Südtirol grundlegend.
Es ist aber gerade eine turbulente Zeit für Südtirol. Seit Oktober 1922 ist Mussolini an der Macht, die Faschisten machen Bozen unsicher.
„Bis zum Marsch auf Bozen verlief das Leben in den Grenztälern im Rhythmus der Jahreszeiten. Es schien, als käme die Geschichte nicht bis hier herauf. Sie war ein Echo, das verhallte. Die Sprache war Deutsch, die Religion christlich, die Arbeit die auf dem Feld und im Stall.“
Im Februar 1923 steht Trina kurz vor dem Abitur. Sie träumt davon, Lehrerin zu werden. Doch mit der Ankunft des Duce wird schnell klar, dass Trina und ihre beiden Freundinnen keinen Platz in der Schule bekommen, weil sie kein Italienisch sprechen. Außerdem stellt die neue Regierung alles auf den Kopf. Sie besetzt die Ämter, verbietet die deutsche Sprache – und will ein altes Staudammprojekt reaktivieren. Zwei Dörfer, Reschen und Graun, sollen enteignet und das Wasser zur Energiegewinnung genutzt werden.
„Unsere Dörfer sollten in einem Wassergrab verschwinden, die Bauernhöfe, die Kirche, die Geschäfte, die Felder und Weiden überflutet. Mit dem Staudamm würden würden wir die Höfe, die Tiere und die Arbeit verlieren. Nichts würde von uns übrig bleiben.“
Im Dorf regt sich Widerstand. Auch Eugen ist vehement gegen das Projekt. Aber wird es gelingen, die Flutung aufzuhalten? Zunächst bringt nur der Zweite Weltkrieg noch große Veränderungen für die kleinen Dörfer und die Menschen, die dort leben – das Grauen bahnt sich an.
Historische Fakten wunderbar mit Fiktion verknüpft
Das Besondere an Ich bleibe hier” ist, dass es Marco Balzano gelingt, die fiktive Geschichte von Trina mit der realen Geschichte des Zweiten Weltkriegs und der Flutung so zu verknüpfen, dass sie emotional und damit sehr eindrücklich wird. Da der Turm der versunkenen Kirche bereits auf dem Buchcover zu sehen ist, ist das Ende der Geschichte nicht überraschend, aber darum geht es auch gar nicht.
Für mich war es vor allem spannend, auf diese Weise mehr über die Geschichte Südtirols zu erfahren. Ich hatte mir zuvor wenig Gedanken darüber gemacht, welche Sprache dort ab wann gesprochen wurde. Oder auf welcher Seite die Menschen im Zweiten Weltkrieg standen und welchen Gefahren sie ausgesetzt waren.
Auch die Geschichte um den Staudamm ist unglaublich interessant. Ich musste oft an das Dorf Lützerath im Ruhrgebiet denken. Dort wurden die Menschen ja zwecks des Braunkohleabbaus umgesiedelt. Deshalb ist „Ich bleibe hier“ von Marco Balzano eine absolute Leseempfehlung.
Hier ist mehr über die Geschichte der versunkenen Kirche nachzulesen.
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