Buchkritik: „Echtzeitalter“ von Tonio Schachinger
Rezension von “Echtzeitalter”: sperrige Sätze gepaart mit viel Witz
Ein Coming-of-Age-Roman, der größtenteils in einem Wiener Internat spielt und dessen Protagonist seine Zeit lieber mit Computerspielen als mit Schulbüchern verbringt – das klingt grundsätzlich sympathisch und interessant. Ist es auch. Wäre da nur nicht die etwas sperrige Sprache, mit der Tonio Schachinger seinen Erfolgsroman „Echtzeitalter“ geschrieben hat. Dafür hat er 2023 den Deutschen Buchpreis erhalten. Allein den ersten Satz musste ich aber zweimal lesen, um ihn vollständig zu erfassen. Ein gelungener Einstieg sieht definitiv anders aus.
Neugierig? Hier kommt er:
„Sieht man diesen Ort zum ersten Mal, das Schloss mit schönbrunnergelben Fassade und der abbröckelnden graugelben Rückseite, den Park mit seinen Wiesen und Sportplätzen, seinem bewaldeten Hügel und seiner Grotte, dann ist die Mauer, die ihn umgibt und deren Höhe je nach Steigung der Argentinier- und Favoritenstraße zwischen zwei und vier Metern schwankt, wahrscheinlich das Letzte, was einem auffällt.“
Ich stöhnte also schon auf der ersten Seite, legte das Buch aber trotzdem nicht weg. Und eins sei jetzt schon verraten: Es bleibt sprachlich anstrengend, aber: Tonio Schachinger erzählt seine Geschichte mit so viel Witz und Esprit, dass ich das Buch trotzdem zu Ende las und dabei auch noch Spaß hatte.
Worum geht es in „Echtzeitalter“?
Im Mittelpunkt von „Echtzeitalter“ steht Till. Er ist am Anfang der Geschichte mitten in der Pubertät und am Ende hat er den Schulabschluss, die Matura. Till lebt bei seiner Mutter, seine Eltern haben sich zuerst scheiden lassen, dann ist sein Vater an Krebs gestorben. Tagsüber geht er auf das Elitegymnasium, das Teil des Internats „Marianum“ ist. Er bleibt dort aber nicht über Nacht, sondern verlässt die Schule jeden Abend.
Zu Hause spielt er in jeder freien Sekunde Computerspiele – ziemlich erfolgreich. In der Gaming-Szene ist er bekannt. Er ist sogar der jüngste Top-10-Spieler der Welt. Dementsprechend wenig bekommt Till aber in der Schule auf die Reihe. Seine Mutter irritiert die ganze Situation, sie leidet außerdem unter der Sprachlosigkeit, die zwischen ihnen herrscht:
„Das Missverständnis, das seitdem zwischen Till und seiner Mutter besteht, basiert darauf, dass sie seine digitalen Amokläufe als schlechtes Zeichen deutet, weil sie fürchtet, sie hingen mit der Scheidung zusammen, während er den Gedanke, spräche ihn seine Mutter aus, gar nicht verstünde, weil für ihn außer Frage steht, dass er seine Zeit nur dann mit bereits durchgespielten Open-World-Spielen verbringt, in denen er keine Missionen erledigt, sondern nur Dinge macht, die man in der echten Welt nicht machen darf, wenn er für alles andere zu erschöpft, von der Schule nach Hause kommt.“
Ein altmodischer Lehrer macht Till das Leben schwer
In der Schule hat er vor allem mit einem Lehrer zu kämpfen: Herrn Dolinar. Bei der Schulleitung ist er hoch angesehen, bei den Schüler*innen dagegen gefürchtet.
Der Dolinar, Tills Klassenvorstand, dessen Aussehen seine Schüler wie das von Lord Voldemort beschreiben würden, obwohl er mit seinem schütteren rotblonden Haar und der Knollennase eher aussieht wie der Tintenfisch, den Spongebob immer so nervt, der Dolinar, der immer Schwarz trägt und im Winter weite Lodenmäntel, die ihn wie eine Fledermaus wirken lassen, ist so ein Wahnsinniger.
Der Dolinar hat noch altmodische Lehrmethoden und ist sehr spaßbefreit. Er greift nur zur Lektüren, die als Reclam-Heft erhältlich sind. Till kommt mit seinen spießigen und konservativen Methoden kaum zurecht und eckt immer wieder mit ihm an.
Generell fällt es ihm schwer, mit seinen größtenteils versnobten Klassenkamerad*innen wirklich tiefe Freundschaften zu schließen. Erst mit Feli und Fina, die er zufällig in der Raucherecke kennenlernt, findet er zwei Freundinnen, mit denen er eine wirklich gute Zeit hat und sich verstanden fühlt.
Tolle Beobachtungen und Ironie
Was mir an „Echtzeitalter“ besonders gefällt, sind Tonio Schachingers genaue Beobachtungen der heutigen Gesellschaft. Mit viel Ironie und Witz beschreibt er die elitäre Welt rund um das Internat. Er selbst besuchte eine ähnliche Einrichtung in Wien – viele eigene Erfahrungen dürften hier eingeflossen sein.
Außerdem fängt er die Pubertät seines Protagonisten wunderbar ein. Es ist interessant zu lesen, wie Till sich durch diese verwirrende Zeit kämpft, mit der Trauer über den Tod seines Vaters umgeht, sich zum ersten Mal verliebt und langsam erwachsen wird.
Auch aktuelle gesellschaftliche Diskussionen beschreibt er wunderbar ironisch:
Sie (Anmerkung: die Buchhändlerin) wäre wahrscheinlich zuerst noch ein bisschen geschockter, denn im Vergleich erscheinen die Ausdrücke Kameltreiber und Drecksschwuchtel beinahe harmlos. Langfristig könnte es die Buchhändlerin allerdings beruhigen, zu hören, dass auch der homophob beleidigte Junge homophobe Sachen sagt und auch er rassistisch beleidigte Junge sich rassistisch äußert, und vor allem könnte es sie als Feministin bestärken, wieder einmal vorgeführt zu bekommen, dass alle Beschimpfungen in irgendeiner Weise mit der Abwertung von Frauen zu tun haben.
Wie wichtig sind Schachtelsätze?
Tonio Schachinger baut viele historische, politische und literarische Bezüge in seinen Roman ein. Keine Frage: Er weiß viel und ist bestimmt sehr intelligent. Es ist beeindruckend, vor allem weil Tonio Schachinger erst Jahrgang 1992 ist.
Zusammen mit der komplizierten Sprache hatte ich nur manchmal das Gefühl, er wolle auch unbedingt zeigen, wie viel er kann. Den Jurymitglieder*innen des Deutschen Buchpreises hat es imponiert. Denis Scheck stellt ihn sogar auf eine Stufe mit Hermann Hesse.
Und zugegeben, die Sätze sind häufig ein kleines Kunstwerk. Für mich stellt sich aber tatsächlich die Frage, ob Literatur wirklich dadurch besser wird, wenn sie solche Satzungetüme enthält. Für mich lassen sich wichtige Inhalte auch in einfacheren Konstruktionen transportieren. Aber vielleicht ist das auch Geschmacksache. Ich bin mir nur sicher, dass es einige Menschen gibt, die “Echtzeitalter” nach 20 Seiten weglegen, weil es ihnen schlichtweg zu anstrengend ist.
Fazit: „Echtzeitalter“ von Tonio Schachinger
Auch mich kostete es manchmal Überwindung, das Buch in die Hand zu nehmen. Abends vor dem Schlafengehen ergab es für mich keinen Sinn, die verschachtelten Sätze zu lesen. Aber wenn ich die Energie dazu hatte, hatte ich Spaß mit dem Buch. Till ist ein durch und durch sympathischer Protagonist. Seine Erlebnisse sind interessant, lebensnah und manchmal auch sehr lustig. Wer also Lust hat, sich auf ein intellektuelles Leseabenteuer einzulassen, wird mit “Echtzeitalter” auf jeden Fall auf seine oder ihre Kosten kommen.
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