30. Dezember 2024

Buchkritik: „Demon Copperhead“ von Barbara Kingsolver

„Demon Copperhead“ von Barbara Kingsolver

„Demon Copperhead“ von Barbara Kingsolver: ein Diamant in Literaturform – eine Rezension

Es gibt Bücher, die sind wie die Nadel im Heuhaufen. Sie sind so schwer zu finden, aber wenn man sie endlich in der Hand hält, ist es ein unwahrscheinliches Glück. Nachdem ich etwa ein Drittel von „Demon Copperhead“ gelesen habe, bin ich mir absolut sicher, solch einen Diamanten in literarischer Form gefunden zu haben. Dieses besondere Gefühl hält sich hartnäckig bis zum Ende der rund 860 Seiten und verschwindet auch danach nicht.

Barbara Kingsolvers Roman schafft es, mich so zu berühren, dass ich beim Lesen emotional regelrecht durch die Höhen und Tiefen im Leben ihres Protagonisten Demon geschleudert werde. Doch egal, wie bedrückend die Geschichte gerade ist, ich kann das Buch nicht mehr aus der Hand legen. So sehr bin ich die Handlung hineingezogen, dass ich unbedingt wissen muss, wie es weitergeht. Ähnlich ging es mir zuletzt nur bei „Ein wenig Leben“. Völlig verständlich hat „Demon Copperhead“ 2023 den renommierten Pulitzer-Preis erhalten.

„Demon Copperhead” ist „David Copperfield“ reloaded

Es ist aber nicht nur der emotionale Aspekt, der mich an „Demon Copperhead“ so fasziniert. Es ist auch das besondere Konzept. Denn Barbara Kingsolver hat das Grundgerüst der Geschichte dem Literaturklassiker „David Copperfield“ entlehnt. Es ist sozusagen „David Copperfield“ reloaded – transformiert in die 1990er- und 2000er-Jahre. Da ich das Original nie gelesen habe, musste Wikipedia herhalten. Nach ein paar Kapiteln „Demon Copperhead“ habe ich dort immer wieder häppchenweise nachgelesen, wie die Handlung bei „David Copperfield“ voranschreitet und was die amerikanische Autorin daraus für Demon gemacht hat.

Worum geht es in „Demon Copperhead”?

Demon lebt im Lee County in Virginia. Das ist inmitten der Appalachen, wo die sogenannten Hillbillys (Hinterwäldler) wohnen. Die Umstände, unter denen er aufwächst, sind hart. Seine Mutter ist sehr jung, immer wieder drogen- und alkoholabhängig und lebt allein in einem Trailer, als Demon auf die Welt kommt. Demons Vater ist kurz zuvor bei einem Sprung von einem Felsen in der Devil’s Bathtub ums Leben gekommen.

„Eine von Moms schlechten Entscheidungen – so nannten sie das in der Reha, und glaubt mir, ihr Leben war voller schlechter Entscheidungen – war ein Typ namens Copperhead. Angeblich hatte er die dunkle Haut und die hellgrünen Augen der Melungeons, die von Weißen, Schwarzen und Indianern abstammen, dazu rotes Haar, das einem ins Auge sprang. Es war lang und schimmerte wie ein Penny, sagte meine Mom, die es offenbar schwer erwischt hatte.“

Demon erzählt seine Geschichte chronologisch im Rückblick. Er beginnt tiefer ins Detail zu gehen, als er im Grundschulalter ist und endet, als er etwa Anfang 20 ist. Immer wieder lässt er durchblicken, dass er durch das Aufschreiben seiner Biografie Klarheit bekommen möchte – was er damit genau meint, wird auf den letzten Seiten des Buches klar.

Traurige Kindheit in Virgina

Demon Copperhead ist übrigens nicht sein richtiger Name. Bei der Geburt nannte ihn seine Mutter Damon Fields. Sein veränderter Nachname ist der Spitzname, den bereits sein Vater hatte. Er ist angelehnt an die Copperhead-Schlangen, die eine kupferrote Zeichnung haben, giftig sind und in Virgina häufig vorkommen.

„Was das „Damon“ betrifft. War ja klar, dass Mom ein Name gefallen würde, der zu einem zuckerärschigen Boygroupsänger passt. Was hatte sie sich dabei eigentlich gedacht? Ich war nicht mal abgestillt, da hatten die Leute schon Demon draus gemacht.“

Dass Demons Kindheit äußerst schwierig ist, wird schnell klar. Bereits auf den ersten Seiten erzählt er:

„Ein Kind zu sein ist was Schreckliches: Man ist ausgeliefert. Wenn man es dann irgendwann hinter sich hat, vergisst man das ganze Elend am besten und macht sich und der Welt vor, das man schon schon immer gewusst hat, was zu tun war. Vorausgesetzt, man hat irgendwas geschafft, auf das man stolz ist. Wenn nicht, ist es leichter, alles zu vergessen. Punkt. Das hier soll die dritte Option werden, nicht stolz, nicht vergesslich. Nicht leicht.“

Da ich nicht zu viel spoilern möchte, sei hier nur so viel verraten: Demons Leben gerät völlig aus den Fugen, als er fast zehn Jahre alt ist und seine Mutter unfähig wird, sich weiter um ihn zu kümmern. Die zuständigen Sozialarbeiterinnen bringen ihn zunächst auf eine Farm, wo der Besitzer, Mr. Crickson, nur männliche Jugendliche aufnimmt, damit sie ihm bei der Tabakernte helfen. Demon leidet Hunger, muss von morgens bis abends schuften und verwahrlost körperlich.

Das katastrophale Pflegeeltern-System in Virgina

Auf der Crickson-Farm lernt er drei andere Jugendliche kennen, Swap-out, Tommy und Fast Forward, die später auf unterschiedliche Weise sein Leben kreuzen. Der etwas ältere Fast Forward ist ein Star in der Footballmannschaft, attraktiv und sehr charismatisch. Aber er hat auch etwas Teuflisches an sich und versorgt die Jungs mit Drogen.

„Ein Zehnjähriger, der sich Tabletten einpfeift. Dumme Kinder. Das ist es, was wir sagen sollen: Seht euch an, wofür sie sich entscheiden – für den Weg ins Verderben. (…) Verderben, das war der Rohstoff, das Material, mit dem wir arbeiten mussten. Ein älterer Junge, der nie Geborgenheit erfahren hatte, versuchte, uns Geborgenheit zu geben. Wir hatten den Mond, der uns eine Weile durchs Fenster zulächelte und sagte, dass die Welt uns gehörte. Weil die Erwachsenen irgendwohin gegangen waren und alles in unsere Hände gegeben hatten.“

Aber auch bei seinen nächsten Pflegeeltern, den McCobbs, wird er wie ein Tier gehalten, muss hungern und Müllcontainer füllen. Das sind unmenschliche Zustände. Es ist für mich deshalb so bedrückend, weil die Schilderungen nur zum Teil der Fantasie von Barbara Kingsolver entspringen. Virginia wird auch als Schandfleck der Nation bezeichnet. Die Armut ist riesig, die Lebenserwartung niedrig und die Folgen der so genannten Opioid-Krise dramatisch.

Über die Oxy-Epedemie in Virgina

Um die Opioid-Krise geht es ab der zweiten Hälfte des Buches. Konkret: um das Schmerzmittel Oxycodon, kurz Oxy. In den 1990er-Jahren brachte es ein Pharmakonzern auf den Markt. Menschen mit Bandscheibenvorfällen, Knieverletzungen oder anderen körperlichen Leiden nahmen es. Dass es schnell abhängig macht, war den Betroffenen nicht bewusst. Die Folge: Unzählige Menschen wurden süchtig, Eltern konnten sich nicht mehr um ihre Kinder kümmern. Das System der Pflegefamilien brach zusammen. Um hier nicht auszuschweifen, dieser „Zeit“-Artikel hat die wichtigsten Infos dazu im Überblick.

„Jeden Tag kommen Leute und wollen ein Rezept. Die sagen alles, um an ihre Schmerzmittel zu kommen. Faseln was von Nierensteinen oder stechen sich in den Finger und geben einen Tropfen Blut in ihre Urinprobe. Sie weiß, dass sie es bei allen Ärzten probieren, aber wenn sie nein sagt, werden sie manchmal richtig fies. Schreien rum und nennen sie eine herzlose Fotze.“

Treue Menschen und Talent

Demon hat aber das Glück, Menschen zu finden, die ihn nicht im Stich lassen. Dazu gehören die Assistenzärztin June und Angus, die eigentlich Agnes heißt. Letztere lernt er kennen, als deren Vater die Vormundschaft für ihn bekommt. Er hat Glück, denn es handelt sich um einen Footballtrainer, der erkennt, dass Demon Talent hat.

Im Tunnel offenbarte sich meine Superkraft. Bei den anderen Übungen hielt ich ganz gut mit, aber wenn ich durch den Tunnel rannte, kamen die anderen ins Staunen. So groß ich war, konnte ich mich doch sehr klein machen. Und am anderen Ende warf ich mich mit ganzer Kraft gegen alles, was mir im Weg stand. Die anderen waren so: Alter, wie der abgeht – Turbo-Demon. Für mich fühlte es sich ganz normal an: Zieh den Kopf ein, mach dich unsichtbar, und dann greif an. Mein Leben war ein einzig langer Tunnel gewesen, der mich hierhergeführt hatte.

Auch sein Lehrer Mr. Armstrong und dessen Frau Annie sehen in Demons Zeichenkünste etwas Besonderes. Diese Menschen retten auf ganze unterschiedliche Weise Demon das Leben. Das Ende ist kitschfrei, ein wenig überraschend und wunderschön.

Fazit zu „Demon Copperhead”

Barbara Kingsolver hat ein vielschichtiges Werk geschaffen, das sehr intelligent ist, emotional berührt, und unglaublich gut geschrieben ist. Sie verleiht Demon eine authentische, eingängige Sprache, die manchmal etwas derb, aber meistens sehr poetisch ist.

Außerdem schafft sie es auf beeindruckende Weise, die bedrückenden Zustände in ihrer Geschichte so zu verweben, dass es zwar an manchen Stellen schwer zu ertragen ist, aber immer wieder auch Witz und Ironie durchblitzen. Außerdem bleibt für mich selbst in den dunkelsten Momenten immer die Hoffnung, dass es wieder aufwärts geht, denn Demon erzählt die Geschichte ja im Rückblick, also muss er noch am Leben sein.

Durch „Demon Copperhead“ habe ich so viel über das Leben gelernt. Über Freundschaft, Zusammenhalt und wie man durch dunkle Täler kommt. Ich habe so viel über Virgina gegoogelt – mir Devil’s Bathtub angesehen, den Hungry Mother State’s Park und Artikel über Oxy gelesen. Außerdem bin ich jetzt sensibler dafür, wie ich meinen „Juice“ im Leben einteile. Mich hat es deshalb wenig überrascht, als ich sah, dass die New-York-Times-Leser*innen „Demon Copperhead“ zum besten Buch des 21. Jahrhunderts kürten.

Als ich mit „Demon Copperhead“ fertig war, saß ich minutenlang nur da und war fasziniert von dieser Leseerfahrung. Es ist etwas ganz Besonderes, in diese Welt rund um die Appalachen einzutauchen. Ich bin Barbara Kingsolver so dankbar für dieses Meisterwerk. Jedes andere Buch, das danach kommt, wird es sehr schwer haben.

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Hallo, ich bin Miriam

Stets bin ich auf der Reise: durch Karlsruhe, die Kultur und die Welt. Dabei begegnen mir immer wieder interessante Menschen, Bücher, Filme und anderer Krimskrams. Damit all diese Erfahrungen und Eindrücke nicht einsam in meinem Kopf schwirren, gibt es diesen Blog. Aus Grau wird Kunterbunt.

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