11. Januar 2025

Buchkritik: „Fegefeuer” von Sofi Oksanen

„Fegefeuer" von Sofi Oksanen

Fegefeuer” von Sofi Oksanen: poetisch und spannend wie ein Krimi

Es war ein riesiger Bestseller in Skandinavien: Als „Fegefeuer“ 2008 erschien, entwickelte sich das Buch zum absoluten Verkaufsschlager. Die finnisch-estnische Autorin Sofi Oksanen erhielt dafür unter anderem den Nordischen Buchpreis. Mittlerweile wurde der Roman in 38 Sprachen übersetzt und auch als Theaterstück adaptiert.

Bei mir lag „Feuerfeuer“ trotzdem fast zehn Jahre zu Hause auf meinem Stapel ungelesener Bücher – und rutschte immer weiter nach unten. Vielleicht lag es an dem eher unappetitlichen Cover mit der großen Schmeißfliege oder an dem unpräzisen Text auf der Rückseite, aber irgendwie schienen mir andere Romane immer interessanter.

Dann kam mir die Autorin Sofi Oksanen wieder in den Sinn, als sie 2023 das Buch „Putins Krieg gegen die Frauen“ veröffentlichte und „Die Zeit“ groß darüber berichtete. Ich schob „Fegefeuer“ auf meinem Bücherstapel nach oben, las es endlich – und war sehr positiv überrascht.

Der Roman ist spannend wie ein Krimi, sehr poetisch geschrieben und bringt den Leser*innen viel Wissenswertes über das Leben in Estland zwischen 1940 und 1993 näher.

Worum geht es in „Fegefeuer“?

Im Mittelpunkt der Geschichte steht Aliide Tru. Die alte, einsame Frau lebt allein auf einem Bauernhof abseits eines estnischen Dorfes. Eines Morgens findet sie in ihrem Garten ein Bündel.

„Das Bündel war ein Mädchen. Verdreckt, zerlumpt und ungepflegt, aber doch ein Mädchen. Ein völlig unbekanntes Mädchen. Ein Mensch aus Fleisch und Blut, kein Zeichen des Himmels aus Richtung Zukunft. Auf den rissigen Nägeln Reste von rotem Nagellack. Über die Wangen waren Streifen von Wimperntusche gelaufen und darauf lagen halb ausgewachsene Locken, der Haarlack darauf bildete winzige Kügelchen, und an deren waren ein paar Blätter der Silberweide haften geblieben.“

Es ist Zara, die sich auf einem Roadtrip mit ihren Zuhältern auf den Hof geschleppt hat. Zara ist in Wladiwostok bei ihrer Mutter und ihrer Großmutter aufgewachsen. Eine Freundin hatte sie überredet, nach Berlin zu gehen, um Geld für ihr geplantes Medizinstudium zu verdienen. Doch es ist eine Falle. Zara wird unter Drogen gesetzt und zur Prostitution gezwungen. Als die Zuhälter sie nach Estland bringen, kann sie sich befreien und zu Aliide flüchten.

Doch die alte Frau ist wenig erfreut, als sie das geschundene Mädchen vorfindet. Denn Zara ist die Tochter ihrer Schwester Ingel, die in den 1940er Jahren von den sowjetischen Besatzern nach Russland verschleppt wurde – woran Aliide nicht unschuldig war. Mit Zaras Ankunft werden Erinnerungen wach. Außerdem sind die Zuhälter Zara auf der Spur, es ist nur eine Frage der Zeit, bis sie bei Aliide vor der Tür stehen.

Verschachtelte Konzeption, die Spannung aufbaut

Eine besondere Stärke des Buches ist seine Konzeption. „Fegefeuer“ ist in fünf Teile gegliedert. Während die ersten vier die Geschichte von Aliide und Zara erzählen, ist der letzte Teil eine Sammlung von Geheimdienstdokumenten aus den Jahren 1946 bis 1950, die die Geschichte ergänzen und einen etwas anderen Blick auf Aliides Leben nach dem Zweiten Weltkrieg ermöglichen.

In den ersten vier Teilen erzählt Sofi Oksanen auch nicht chronologisch, sondern springt zwischen den Zeiten und Perspektiven hin und her. Mal spielt die Handlung in Estland, mal in Deutschland, mal in den 1940er-, mal in den 1990er-Jahren. So hält sie die Spannung durchgehend hoch.

Auch ihre Protagonistin Aliide ist sehr differenziert gezeichnet. Mit der Zeit wird deutlich, dass sie früher ein sehr schwieriges Verhältnis zu ihrer Schwester Ingel hatte und eifersüchtig auf sie war.

„Nein, Ingel konnte alles, auch ohne es gelernt zu haben. Ingel molk vom ersten Mal an die Kühe so, dass die Milch über den Rand des Melkeimers schäumte, Ingels Schritte auf dem Acker ließen das Getreide besser wachsen als bei allen anderen. Aber auch damit nicht genug. Ingel musste den Mann bekommen, den Aliide als Erste gesehen hatte. Den Einzigen, den sie gewollt hätte.“

Ingel ahnt nichts davon. Die Sorgen während und nach dem Zweiten Weltkrieg sind auch groß für die Schwestern. Abwechselnd kämpfen sie gegen russische und deutsche Soldaten. Die Verhältnisse in Estland sind damals sehr hart.

Dieser Blick in die Vergangenheit übt auf mich einen ähnlichen Sog aus wie Zaras Geschichte. Dadurch ist jedes einzelne Kapitel spannend. Auch der Blick in das Estland der 1940er-Jahre ist für mich sehr neu und interessant.

Fazit zu „Fegefeuer“

Mir hat es großen Spaß gemacht, „Fegefeuer“ zu lesen. Ehrlich gesagt habe ich einige Abschnitte, die etwas langatmig und sehr atmosphärisch waren, einfach übersprungen. Das lag vor allem daran, dass die Geschichten um Aliide und Zara so spannend waren, dass ich keine endlos poetischen Sätze über die Natur brauchte. Diesen Effekt habe ich sonst nur bei Krimis.

Aber es wäre falsch, „Fegefeuer“ auf dieses Genre zu reduzieren. Denn der Roman enthält tiefgründige und facettenreiche Geschichten, in denen Sofi Oksanen einen interessanten Blick in die Vergangenheit des osteuropäischen Landes wirft. Die wilde Geschichte um Zara ist nur ein Aspekt. Toll finde ich auch, dass durch die Dokumente im letzten Teil nochmals neue Perspektiven auf das bereits Erzählte möglich werden.

Wer also Lust auf neue Blickwinkel, interessante Frauenfiguren und eine unterhaltsame Geschichte hat, wird an „Fegefeuer“ seine Freude haben.

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Hallo, ich bin Miriam

Stets bin ich auf der Reise: durch Karlsruhe, die Kultur und die Welt. Dabei begegnen mir immer wieder interessante Menschen, Bücher, Filme und anderer Krimskrams. Damit all diese Erfahrungen und Eindrücke nicht einsam in meinem Kopf schwirren, gibt es diesen Blog. Aus Grau wird Kunterbunt.

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