Buchkritik: „Ach, diese Lücke, diese entsetzliche Lücke“ von Joachim Meyerhoff

Es ist definitiv Großmutter Inge, die der absolute Star ist in Joachim Meyerhoffs Roman „Ach, diese Lücke, diese entsetzliche Lücke“. Die ältere Dame strotzt nur so voller Theatralik und Eleganz. Mit einem bedeutungsschwangeren „Mooooahhhhh“ kommentiert sie die belanglosesten Dinge – wie den Brie beim Abendessen. Die Aufmerksamkeit hat sie damit allemal. Einer ihrer Ticks ist es auch, bei „Oh Gott“ die beiden „tt“ deutlich auszusprechen.
“Sie sagte nicht ,Gott’, sondern ,Got-t“ (…) „Alles hatte Bedeutung und es gab einem das gute Gefühl, dabei sein zu dürfen, wenn sie redete.”
So ist es keine große Überraschung, als sich von Kapitel zu Kapitel deutlicher herausstellt, wer genau die Großmutter von Joachim Meyerhoff ist. Es ist Inge Birkmann, eine renommierte Schauspielerin, die an den großen Theatern Deutschlands auf der Bühne stand und auch im Fernsehen zu sehen war – unter anderem in „Derrick“ oder „Der Alte“.
Mit ihrem Mann Hermann Krings, einem emeritierten Professor der Philosophie, bewohnt die Diva eine prächtige Villa in der Nähe des Nymphenburger Parks. Dorthin zieht Joachim Meyerhoff nach dem Abitur, weil er zunächst seinen Zivildienst in München absolvieren will, dann aber kurzfristig eine Zusage für die Otto-Falckenberg-Schauspielschule in der bayerischen Stadt erhält.
Es ist ein Spagat zwischen zwei Welten: den freigeistigen Kreativen und den kultivierten, großbürgerlichen Senioren. Wie es ihm damals, Ende der 1980er-, Anfang der 1990er-Jahre erging, daran erinnert sich Joachim Meyer in seinem autobiografisch geprägten Werk sehr amüsant und einfühlsam.
Worum geht es in „Ach, diese Lücke, diese entsetzliche Lücke“?
„Ach, diese Lücke, diese entsetzliche Lücke“ ist der dritte Teil von Joachim Meyerhoffs mehrteiligem Romanzyklus „Alle Toten fliegen hoch“. Während er im ersten Band vor allem von seinem Schuljahr in „Amerika“ erzählt, geht es im zweiten Band „Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war“ um seine Kindheit und Jugend in Schleswig-Holstein, wo sein Vater Leiter einer psychiatrischen Klinik war.
Die ersten beiden Bände habe ich bereits vor einigen Jahren gelesen. Dass ich mir jetzt endlich „Ach, diese Lücke, diese entsetzliche Lücke“ gekauft habe, liegt vor allem daran, dass eine Adaption des Buches als Theaterstück am Badischen Staatstheater Karlsruhe aufgeführt wurde, eine großartige One-Woman-Show mit der Schauspielerin Anne Müller, die die verschiedenen Charaktere mit unglaublicher Kraft und viel Humor zum Leben erweckt. Besonders amüsant ist es, wenn Anne Müller die Großeltern von Joachim Meyerhoff imitiert.
Unterhaltsame Geschichten über die Großeltern
Ähnlich empfand ich es auch beim Lesen. Die Kapitel über das Zusammenleben mit den Großeltern sind Joachim Meyerhoff so unglaublich gut gelungen. Ich musste vor allem zu Beginn so oft laut lachen, gegen Ende berührte mich aber auch der immer stärker werdende Alterungsprozess der Senior*innen sehr.
Inge und Hermann pflegen einen soliden Alkoholkonsum, in fünf Etappen trinken sie sich durch den Tag. Morgens Champagner, mittags Weißwein und vor dem Schlafengehen noch einen Cointreau. Dazwischen gibt es Rotwein und Whisky. Auch ihr Gurgelwasser schmeckt verdächtig nach Schnaps.
“Hatten die Großeltern den Frühstückstisch erreicht, waren sie bereits völlig erschöpft, sahen aber blendend aus. Immer eine Mischung aus gut beräunt und rosig. Meine Großmutter trug am Morgen meist rosa Hosenanzüge. Sie liebte Rosa. Das Zimmer, in dem ich schlief, hieß „das rosa Zimmer“. (…) Hierfer zog sie sich zurück oder verbrachte halbe Nächte, wenn mein Großvater zu sehr schnarchte oder ihre innere Unruhe sich selbst durch Schlafmittel nicht besiegen ließ. Es war ihr rosa Refugium.”
In diesem rosa Zimmer lebt Joachim nun mehrere Jahre. Er fühlt sich wohl dort. Im Gegensatz zur Schauspielschule. Joachim hat große Schwierigkeiten, dort seinen Platz zu finden. Es fällt ihm schwer, sich selbst zu finden, sich in seine Einzelteile zu zerlegen. Selbstzweifel plagen ihn, und auch das Feedback seiner Lehrenden ist schlecht. Erst als er irgendwann entdeckt, dass viel Wut und Verzweiflung in ihm stecken, geht es aufwärts.
Geschichten aus der Schauspielschule sind ein wenig langatmend
Es ist ein großes Vergnügen, „Ach, diese Lücke, diese entsetzliche Lücke“ zu lesen. Joachim Meyerhoff schreibt unglaublich schön, humorvoll und unterhaltsam. Die Kapitel über die Schauspielschule fand ich anfangs auch interessant, aber in der Mitte haben sie für mich etwas an Spannung verloren. Es geht um sehr viele Details und Personen, bei denen es mir schwer fällt, Bilder in meinem Kopf entstehen zu lassen. Gegen Ende wird es wieder besser, als Joachim Meyerhoff die Wut und Goethes Werther für sich entdeckt.
Die Stärken des Buches liegen aber zweifellos in den Anekdoten rund um die Großeltern. Anfangs sind sie fast ausnahmslos witzig. Gegen Ende schleichen sich aber immer mehr ernste Facetten ein, als Details aus deren Vergangenheit hervortreten.
Fazit: „Ach, diese Lücke, diese entsetzliche Lücke“
Joachim Meyerhoff ist definitiv ein großartiger Erzähler und seine Biografie hat so viel zu bieten – die tiefsten Täler, aber auch die schwindelerregendsten Höhen. „Ach, diese Lücke, diese entsetzliche Lücke“ ist deshalb lesenswert – mit wenigen Längen. Auf den vierten Band seines Zyklus: „Die Zweisamkeit der Einzelgänger“ bin ich deshalb schon sehr gespannt.
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