Buchkritik: „Zwei vernünftige Erwachsene, die sich mal nackt gesehen haben“ von Anika Decker

„Zwei vernünftige Erwachsene, die sich mal nackt gesehen haben“: eine perfekte Sommerlektüre
Unter normalen Umständen wäre der neueste Roman von Anika Decker komplett an mir vorbeigerauscht. Anika Decker ist mir zwar seit einigen Jahren ein Begriff, weil sie gegen Til Schweiger klagte und „Die Zeit“ darüber berichtete. Der Grund für den Prozess: Anika Decker hat die Drehbücher für „Keinohrhasen“ und „Zweiohrküken“ geschrieben – und wurde dafür zunächst nicht anständig bezahlt. Den Prozess gewann sie.
Nun wären die beiden Filmkomödien noch keine Empfehlung für mich gewesen, einen Roman von Anika Decker zu lesen. Dass ich es trotzdem tat, verdanke ich mehreren Podcasts, in denen die unterschiedlichsten Leute begeistert von „Zwei vernünftige Erwachsene, die sich mal nackt gesehen haben“ sprachen.
Da ich seit einiger Zeit einen Bibliotheksausweis besitze, dachte ich mir: Perfekt, ich leihe mir das Buch aus, das es derzeit nur als Hardcover gibt, und wenn es mir nicht gefällt, habe ich ja keine 23 Euro ausgegeben.
Nun, ich muss zugeben, ich bin positiv überrascht. „Zwei vernünftige Erwachsene, die sich mal nackt gesehen haben“ ist ein total unterhaltsames Buch, das man einfach so weglesen kann. Es ist zwar keine tiefsinnige Literatur, bedient einige Stereotypen und hat keine überraschende Wendung. Aber es macht großen Spaß, die fast 50-jährige Nina dabei zu begleiten, wie sie sich in den 20 Jahre jüngeren David verliebt – und hin- und hergerissen ist.
„Zwei vernünftige Erwachsene, die sich mal nackt gesehen haben“ ist aber nicht nur eine schöne Liebesgeschichte, sondern dreht sich auch um einen Me-too-Skandal bei der Produktion einer erfolgreichen TV-Serie, der unsauber aufgearbeitet wird. Erinnerungen an Julian Reichelt und den Springer Verlag werden wach.
Worum geht es in „Zwei vernünftige Erwachsene, die sich mal nackt gesehen haben“?
Im Zentrum der Geschichte steht Nina. Sie kämpft gerade mit den ersten Symptomen der Wechseljahre und ist geschieden. Mit ihrem Ex-Mann lebte sie in einer großen Villa in Gruneberg. Da sie aber während der Ehe nicht berufstätig war, sondern sich um die beiden Kinder gekümmert hat, bleibt ihr nach der Trennung nur das Budget für eine kleine Wohnung im Wedding. Ihr Ex-Mann ist nun mit einer jüngeren Micro-Influencerin (ca. 2000 Follower) zusammen, mit der er kleine Zwillinge hat.
Auf einer Grillparty lernt Nina überraschend den Koch David kennen. Zwischen den beiden funkt es sofort. Doch am Morgen nach der ersten gemeinsamen Nacht kommen Nina große Zweifel: Wie soll das funktionieren, eine Beziehung mit einem 30-Jährigen? Auch ihre beiden erwachsenen Kinder machen sich lustig, als sie von der Romanze erfahren. Also geht Nina erst einmal auf Distanz.
Wie komme ich in den exklusiven Club der Gruneberger Hausfrauen?
Ninas Geschichte wird ergänzt durch Kapitel aus der Sicht ihrer jüngeren Schwester Lena. Sie ist von Hannover nach Berlin gezogen und führt dort in Gruneberg das Leben, das Nina einst hatte. Lenas Mann Florian arbeitet als beratender Anwalt für die Produktionsfirma, in der der Me-too-Skanda auftritt – und in der auch Nina seit der Scheidung als Produktionsassistentin angestellt ist. Lena sehnt sich danach, in den Kreis der perfekten Hausfrauen von Gruneberg aufgenommen zu werden.
Nina beschreibt das so:
„Lena sieht mittlerweile tatsächlich aus eine Westberliner Besserverdiener-Mutti. Seit ihrem Umzug aus Hannover hat sie sich ziemlich gewandelt. Wie eine Grunewald-Barbie besitzt sie nun alle notwendigen Accessoires, um dazuzugehören: den unsäglichen fisseligen Pagenschnitt mit Haarreif, klobige schwarze Ballerinas und eine Art Kinderkleid ohne Taille, aber mit einer riesigen Schluppe vorne. Dazu trägt sie ihren stets angesäuerten Blick.“
Und wenige Seiten später so:
„Lena lächelt so angestrengt, dass die Sehnen an ihrem Hals hervortreten. Eine der Frauen spricht wahrscheinlich gerade darüber, wie sehr Achtsamkeitsübungen ihr Leben verändert haben, oder über ähnlichen Blödsinn. Sie tun alles so, als wären sie innerlich erleuchtet, was sich in Form einer sanft lächelnden Überheblichkeit bemerkbar macht. Niemand will in die Tiefe gehen, über eine Ehekrise sprechen oder gar über einen Krieg. Hier geht es nur darum, dass alles perfekt aussieht.“
Diese genauen und sarkastischen Beschreibungen der oberflächlichen Welt von Gruneberg sind eine Stärke des Buches – auch wenn Anika Decker manchmal in Klischeekisten greift.
Reise in die Vergangenheit am Krankenbett
Neben Nina und Lena gibt es noch eine dritte wichtige Frau im Buch: ihre gemeinsame Mutter. Sie war alleinerziehend, nachdem ihr Mann früh an Krebs gestorben ist. Jetzt trinkt die Seniorin viel zu viel und landet nach zwei Stürzen im Krankenhaus. Nina beginnt am Krankenbett ihrer Mutter, die Vergangenheit aufzuarbeiten. Ein wichtiger Schritt, um in die Zukunft blicken zu können.
Durch die drei Frauen kommen auch unterschiedliche Perspektiven ins Buch, die neben dem Me-too-Skandal dem Buch mehr Tiefe geben. Dass in der Firma bei der Aufarbeitung der Missbrauchsvorwürfe etwas nicht stimmt, spüren Nina und ihre Kollegin Zeynep schnell. Als sie anfangen, genauer hinzuschauen, merken sie nur, dass sie das ihren Job kosten könnte. Aber aufgeben wollen sie nicht.
Fazit: Wie finde ich „Zwei vernünftige Leute, die sich mal nackt gesehen haben“?
„Zwei vernünftige Erwachsene, die sich mal nackt gesehen haben“ ist super zu lesen. Anika Deckers Sprache ist eingängig, bunt und voller Dynamik. Ein großer Pluspunkt ist auch ihre genaue Beobachtungsgabe. So lässt sie Nina mit viel Witz erzählen:
„Ich arbeite in einer modernen Produktionsfirma. Mein direkter Chef, Ansgar, ist circa zwölf Jahre alt. Seine maximale Aufmerksamkeitsspanne beträgt ungefährt drei Minuten, ist also ähnlich lang wie ein TikTok-Post. Seine blonden Haare zementiert er sich igelartig nach oben, weil er denkt, dass er damit „hip“ aussieht. Er klatscht sich jeden Montag mit meinem Kollegen Laurus im Morgenmeeting ab und fragt: „wann den Bayern endlich die Lederhosen runtergezogen werden, damit alle sehen, dass sie nur Muschis haben“.”
Einige Ausführungen von Nina über ihre Zweifel mit David hätten zwar kürzer sein können. Manche Gedanken wiederholen sich oder werden langatmig. Auch die Konzeption von zwei Frauen, die während ihrer Ehe gar nicht arbeiten, ist nur bedingt zeitgemäß. Aber ich kenne auch keine Mütter in Gruneberg, vielleicht ist das dort tatsächlich noch üblich.
„Zwei vernünftige Erwachsene, die sich mal nackt gesehen haben“ erfindet das Rad deshalb nicht neu und ist auch kein hipper Roman. Aber er hat mich wunderbar unterhalten – eine perfekte Sommerlektüre.
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