1. August 2024

Buchkritik: “Gittersee” von Charlotte Gneuß

"Gittersee" von Charlotte Gneuß

Rezension von “Gittersee”: Den Stasi-Schrecken mit poetischer Sprache erzählt

„Lust auf ein Abenteuer?“

Pauls Frage klingt Karin noch lange in den Ohren, nachdem er mit seiner knatternden Schwalbe verschwunden ist. Er wolle zur Sommersonnenwende zu den Tschechen, hatte er Karin erzählt. Zusammen mit seinem Freund Rühle. Klar, Karin hat Lust auf Abenteuer, aber keine Zeit. Die Mutter ist nicht da, die kleine Schwester braucht sie, die Wäsche macht sich nicht von selbst.

Es ist das letzte Mal, dass die 16-Jährige ihren Freund sieht. Nur Rühle kommt vom Ausflug zurück. Paul ist im Westen, weit weg von ihr, ihrer Familie und Gittersee, dem tristen Dresdner Vorort in der DDR. Dafür tritt Wickwalz von der Stasi in Karins Leben – mit tiefer, warmer Stimme und melancholischem Blick. Er will mehr über Pauls Verschwinden erfahren. Wird Karin einlenken und helfen? Darum geht es in „Gittersee“, dem Roman von Charlotte Gneuß.

Viele Auszeichnungen für “Gittersee”

Das Buch “Gittersee” stand auf der Longlist des Deutschen Buchpreises und gewann den Aspekte-Literaturpreis 2023. Ich hörte die Buchkritikerin Christiane Westermann in einem Podcast davon schwärmen und war sehr neugierig, als ich mich ans Lesen machte. Und tatsächlich: Auch ich habe den Roman in nur zwei Tagen verschlungen und bin begeistert.

Dass Gittersee” so leicht zu lesen ist, liegt vor allem an der unglaublich schönen, poetischen und dynamischen Sprache von Charlotte Gneuß.

„Was ein Wetter, sagte Wickwalz. Er war frisch rasiert. Ich nickte, strich die Finger an der Hose ab und sagte: Rühle hat gelogen. Wickwalz gab Gas, und die Fahrt begann. Wollen wir noch in mein Büro, fragte er nach einer Weile. Ich sagte, Büro. Der Regen klopfte gegen die Scheibe, das Radio spielte Klaviermusik. Wickwalz nannte sie Elise. Ein guter Name, dachte ich und dachte, er hat bestimmt eine schöne Frau. So fuhren wir durchs Gewitter. Wickwalz‘ Licht flutete alles. Schilder, Postkästen, Telefonkabinen. Ich sah seine schöne Elise tanzen und strich mir über die nassen Knien.“

Wunderschön. Dass Charlotte Gneuß vom szenischen Schreiben kommt, ist in vielen Sätzen spürbar. Auf Fragezeichen und Anführungszeichen verzichtet sie konsequent.

Neben diesem besonders mitreißenden Schreibstil gelingt es der Autorin, die Spannung über die gesamte Länge des Buches hochzuhalten. Bis zur letzten Seite weiß ich nicht, wie die Geschichte ausgehen wird. Das Ende kommt überraschend und mit einem gelungenen Twist.

Viele Leerstellen beim Erzählen

Charlotte Gneuß lässt beim Erzählen immer wieder Lücken, springt hin und her, aber nie so, dass es anstrengend wird, sondern immer unterhaltsam bleibt. So erzählt Karin auch von der gemeinsamen Zeit mit Paul, also bevor er mit seiner Schwalbe davon düste:

„Ich fand, er sollte jetzt ein wenig um mich kämpfen. Er sollte wenigstens einen Moment denken, dass ich weglaufen könnte, dass meine Liebe keine Selbstverständlichkeit war. Denn alles, was weglaufen kann, hat einen eigenen Kopf. Und alles, was einen eigenen Kopf hat, ist schön. Und alles, was schön ist, hat man gern. Und alles, was man gernhat, möchte man bei sich haben. Und alles, was man bei sich haben mag, will man einfangen und nie mehr hergeben. So saß ich und hörte den Kauz, der kein Kauz war. Und als er dreimal gepfiffen hatte, lief ich zum Spiegel, malte die Lippen rot und rannte die Treppen hinunter.“

Karin ist lost

Die 16-jährige Protagonistin Karin wächst in einer Familie auf, in der sie wenig Aufmerksamkeit bekommt. Die Mutter ist unglücklich und verschwindet am liebsten. Karin ist deshalb der Mutter-Ersatz für ihre kleine Schwester. Der Vater ist schwach und trinkt zu viel. Die dominante Großmutter bestimmt das Geschehen im Haus. Sie trauert der Nazizeit nach und hat kein Mitgefühl für eine Jugendliche mit Liebeskummer. Karin leidet und sucht Halt. Für den Stasi-Mitarbeiter Wickwalz ist sie ein gefundenes Fressen.

In der ehemaligen DDR war es tatsächlich üblich, dass die Stasi Minderjährige anwarb und sie dazu brachte, Menschen aus ihrer Umgebung zu verraten.
Karin gerät nicht nur bei Fragen zu Paul in einen Konflikt. Auch ihre beste Freundin Marie und deren alleinerziehende Mutter sind für die Staatssicherheit interessant: Maries Vater lebt in West-Berlin. Wird Karin dieses Geheimnis ausplaudern?

Außergewöhnliches Buch mit tollem Ende

Nach der Veröffentlichung von „Gittersee“ gab es Kritik, dass nicht alle Beschreibungen im Buch stimmten. So sei es zum Beispiel unmöglich gewesen, in der Elbe zu baden – wie es Karin mit ihren Freunden tut. Aber für mich sind solche Ungenauigkeiten unwichtig. Mir geht es um das große Stimmungsbild.

Perspektivlosigkeit, Angst, Denunziation: Charlotte Gneuß gelingt es, den Schrecken der Stasi und die bedrückende Stimmung in der Dresdener Vorstadt zu vermitteln. Zusammen mit der ungewöhnlichen, rhythmischen Sprache macht dies „Gittersee” zu einem außergewöhnlichen Buch.

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Hallo, ich bin Miriam

Stets bin ich auf der Reise: durch Karlsruhe, die Kultur und die Welt. Dabei begegnen mir immer wieder interessante Menschen, Bücher, Filme und anderer Krimskrams. Damit all diese Erfahrungen und Eindrücke nicht einsam in meinem Kopf schwirren, gibt es diesen Blog. Aus Grau wird Kunterbunt.

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