Schmöker: “Unschuld” von Jonathan Franzen

Eine wilde Geschichte: “Unschuld” von Jonathan Franzen – Buchkritik
Ein Whistleblower, sozialisiert im DDR-Regime, traumatisiert, neurotisch. Frauen mit Vaterkomplex, die verloren durch die Welt tapsen: “Unschuld” von Jonathan Franzen ist ein Aufeinandertreffen von pathologischen Persönlichkeiten. Eine Figur, deren Psyche einigermaßen in Balance ist, suchte ich in diesem Buch vergeblich.
Gleichwohl: Ich habe „Unschuld“ gerne gelesen. Es ist voller Spannung, zeigt interessante Einblicke in die DDR, in die USA und die Welt der Hacker. Mit “Unschuld” ist Jonathan Franzen erneut eine imposante Gesellschaftsstudie gelungen – voll mit differenzierten Persönlichkeitsanalysen. Die Sätze prägnant, weise, sein Stil gerade, ohne platt zu sein.
Der Amerikaner schafft Literatur, die mich jedes Mal wieder von Neuem bereichert, unterhält und mich zum Nachdenken anregt. Nur: An die Vorgänger “Die Korrekturen” und “Freiheit” kommt “Unschuld” nicht heran.
Ein Sammelsurium an exzentrischen Charakteren
Im Zentrum von „Unschuld“ steht Pip Tyler. Ihr Vorname: Eine Abkürzung von Purity, wie auch der Roman im amerikanischen Original heißt. Zu Beginn des Buches ist Pips Leben eine riesige Ansammlung von Problemen. Ihr Bürojob macht ihr keine Freude, die Studienschulden sind hoch, mit den Männern erlebt sie nur Katastrophen und ihre alleinerziehende, leicht depressive Mutter klammert.
Als sie mit dem Whistleblower Andreas Wolf in Kontakt kommt, hofft sie, durch ihn an Informationen zu ihrem unbekannten Vater zu kommen. Denn ihre Mutter schweigt, verweigert ihr jegliche Information.
Andreas Wolf lebt in Bolvien und hat sich dort als Recherchespezialist eine sektenartige Komumme aufgebaut, die versucht, durch das Aufdecken von Skandalen die Welt ein wenig gerechter, reiner zu machen. Seine eigene Biografie ist dagegen voller Schuld. Aufgewachsen ist er in der DDR, sein Vater: ein Staatssekretär des Regimes. Andreas Wolf rebelliert als Teenager, sucht in einer Kirche Zuflucht, wo er die bildhübsche Annagret kennenlernt, die ebenfalls vor ihrer Familie Schutz sucht. Er verliebt sich und stürzt sich für sie in ein wahnsinniges Unterfangen.
Ein buntes Mosaik
Das Besondere an „Unschuld“ ist die mosaikhafte Zusammensetzung des Romans. Jedes Kapitel wird aus der Sicht eines anderen Protagonisten erzählt. Dadurch zeigen sich nach und nach neue Zusammenhänge zwischen einzelnen Personen und verschiedene Perspektiven. Das Netz verdichtet sich zunehmend, bis am Ende ein vollständiges Bild vorhanden ist. Der Spannungsbogen ist dadurch hoch.
Deutschland, USA, Südamerika: Die einzelnen Geschichten spielen an verschiedenen Orten und Jahrzehnten – von den 1980ern bis in die 2010er-Jahre. Die Schuldfrage lässt Jonathan Franzen auf verschiedenen Ebenen auftauchen: auf Systemischer wie der DDR, in zwischenmenschlichen Beziehungen oder auch bei individuellen Taten. Wie gehen Menschen damit um, wenn sie ihre Reinheit verloren haben? Wenn sie gescheitert sind an ihren eigenen Ansprüchen oder denen, die ihnen die Gesellschaft vorgibt.
Überdreht am Ende, aber trotzdem lesenswert
Dass „Unschuld“ trotzdem keine bedingungslose Euphorie wie „Freiheit“ in mir auslöste, liegt daran, dass die Ereignisse an einigen Punkten zu sehr überdrehen. Die Geschichte um Andreas Wolf stürzt gegen Ende immer mehr ins Groteske ab. Das ist schade. Ansonsten ist „Unschuld“ aber sehr lesenswert, allein wegen des wunderbaren und klugen Schreibstils von Jonathan Franzen.
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