29. August 2024

Buchkritik: “22 Bahnen von Caroline Wahl”

Caroline Wahl I  22 Bahnen

Rezension von “22 Bahnen”: leise Liebesgeschichte, die auch sprachlich verzaubert

An einem verregneten Tag im Freibad sieht Tilda plötzlich Viktor wieder. Jahrelang war er aus der Kleinstadt verschwunden. Nun ist er wieder da. Warum nur?

„Unsere Blicke treffen sich, und wir starren uns an. Ich will eigentlich wegschauen, aber wenn er nicht wegschaut, dann darf ich ihn auch weiter anstarren. Erkennt er mich? Wir waren in derselben Schule, und er weiß bestimmt, dass ich mit seinem Bruder befreundet war. Zumindest hat er mich auf der Beerdigung gesehen. Da ist irgendwas in seinem Gesicht, das mich nicht loslässt. Vielleicht dieses überhebliche, belustigte Funkeln in seinen Augen und das kaum bemerkbare Zucken seines Mundwinkels, das ich nur erahnen kann.“

Viktor ist der große Bruder von Ivan, mit dem Tilda und ihre Freundin Marlene kurz nach dem Abitur einen Sommer lang Zeit verbracht haben. Viktors Auftauchen weckt nicht nur romantische Gefühle in ihr, sondern auch dunkle Erinnerungen.

Tilda ringt außerdem mit einer Entscheidung, die ihr ganzes Leben betrifft. Der Mathematik-Studentin wurde ein Promotionsstudium in Berlin angeboten. Die Aussicht auf ein selbstbestimmtes Leben in der Hauptstadt ist verlockend. Wären da nicht die Probleme mit ihrer Mutter und die Verantwortung für ihre kleine Schwester, die Tilda bisher an das Leben in der Kleinstadt fesseln.

Wie wird Tilda sich entscheiden? Darum geht es in „22 Bahnen“ von Caroline Wahl – ihrem ganz leisen, wunderbar geschriebenen Debütroman. Wochenlang stand er zu Recht auf Platz 1 der Bestsellerlisten. Ich habe das Buch in zwei Tagen verschlungen, so sehr hat mich die Geschichte von Tilda mitgerissen. Es ist eine gefühlvolle, aber ganz und gar unkitschige Liebesgeschichte, verbunden mit einer mutigen Selbstbefreiung.

Um was geht es in “22 Bahnen” von Caroline Wahl?

Vor allem die sympathische und kluge Protagonistin Tilda hat mich blitzschnell in den Roman hineingezogen. Die Studentin wohnt in der Kleinstadt in der Fröhlichstraße. Der Name könnte kaum unpassender sein. Denn bei ihr zu Hause herrscht keine Heiterkeit. Tildas Mutter trinkt, der Vater hat die Familie verlassen.

Deshalb kümmert sich Tilda um ihre kleine Schwester Ida. Sie kocht, putzt, macht mit ihr Hausaufgaben und geht mit ihr ins Freibad. An ein turbulentes Studierendenleben ist für Tilda also nicht zu denken. Um Geld zu verdienen, arbeitet sie zusätzlich an der Kasse eines Supermarktes.

„Wenn ich nachts auf meiner Matratze liege und der Wind oder diese Sommernachtsbrise durch die weit geöffneten Fenster auf mich fällt, dann scheint kurz alles gut zu sein. Dann fühle ich mich leicht. Wenn ich nachts auf meiner Matratze liege, dann denke ich, dass ich das Ganze da draußen noch lange aushalten kann. Solange der Wind nachts auf mich fällt, denke ich, kann ich mich tagsüber in den Krieg da draußen stürzen. Gegen meine Mutter, ihre Launen, gegen diese Kleinstadt. Und für Ida.“

Kein unbeschwertes Leben

Caroline Wahl erzählt die Geschichte von Tilda auf mehreren Ebenen. Immer wieder erinnert sich die junge Frau an vergangene Ereignisse – wie sie als Kind viel Zeit bei der Familie ihrer besten Freundin Marlene verbrachte und wie der Sommer mit Ivan war. Dabei wird immer deutlicher, welches Trauma Viktor mit sich herumträgt und warum er in die Kleinstadt zurückgekehrt ist.

Tilda und Viktor treffen sich nach dem Wiedersehen im Freibad immer wieder zufällig, eine Romanze entwickelt sich. Tilda ist verliebt.

“Seine verstrubbelten weißblonden Haare, die markanten, harten Züge seines gebräunten Gesichts, seine schmale gerade Nase, die scharf geschnittenen Augenbrauen, der schmale Mund. Schön, denke ich.”

Doch die Voraussetzungen sind schwierig: Tilda und Viktor haben beide so viel mit ihrem eigenen Leben zu tun, dass für eine Beziehung eigentlich kein Platz ist. Haben sie trotzdem eine Chance?

Tolle Balance zwischen Leichtigkeit und Schwere

Caroline Wahl gelingt in ihrem Debütroman eine wunderbare Balance zwischen Leichtigkeit und Schwere. Die Geschichte in “22 Bahnen” berührt, aber deprimiert nicht. Dass ich das Buch so gerne gelesen habe, liegt auch an der eingängigen und zugleich einfallsreichen Sprache.

Außerdem ist die Autorin eine genaue Beobachterin. Es gelingt ihr, das Leben einer Familie mit einer alkoholkranken Mutter präzise zu beschreiben. Aber auch den hippen Zeitgeist beschreibt Caroline Wahl wunderbar ironisch und fängt ihn perfekt ein. So tragen die Berliner Gäste auf der Gartenparty Microponys, Tattoos wie Cloudrapper und schwarze Minifaltenröcke.

Die Spannung liegt aber natürlich in der Liebesgeschichte mit Viktor. Werden die beiden es schaffen, trotz aller Widrigkeiten ein Paar zu werden? Diese Frage hat mich immer wieder zu dem Roman gezogen und dazu geführt, dass ich ihn rasend schnell gelesen habe. Mit einem erfüllten Gefühl habe ich ihn am Ende aus der Hand gelegt. Noch Wochen später denke ich gerne an “22 Bahnen” – an Tilda, Ida und Viktor.

Ein Wiedersehen mit Ida in “Windstärke 17”

Der Roman gehört definitiv zu den besten deutschen Büchern der vergangenen Jahre. Er steht auf einer Ebenee mit “Vom Ende der Einsamkeit” oder “Hard Land” von Benedikt Wells – vor allem was das Gefühlvolle betrifft. In ihrem neuen Buch “Windstärke 17” greift Caroline Wahl die Figur der Ida wieder auf. Ich freue mich auf ein Wiedersehen mit ihr.

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Hallo, ich bin Miriam

Stets bin ich auf der Reise: durch Karlsruhe, die Kultur und die Welt. Dabei begegnen mir immer wieder interessante Menschen, Bücher, Filme und anderer Krimskrams. Damit all diese Erfahrungen und Eindrücke nicht einsam in meinem Kopf schwirren, gibt es diesen Blog. Aus Grau wird Kunterbunt.

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