26. März 2024

Buchkritik: “Dschinns” von Fatma Aydemir

"Dschinns" I Fatma Aydemir
“Dschinns” I Fatma Aydemir

“Dschinns”: einfühlsames und spannendes Porträt einer Gastarbeiter-Familie

Es ist 1999. Fast 30 Jahre lang hat Hüseyin für die Eigentumswohnung in Istanbul gearbeitet. 59 Jahre ist er nun alt und endlich in Rente. In den 1970er-Jahren kam er aus einem türkischen Dorf nahe der armenischen Grenze nach Deutschland und fand dort nicht das erhoffte schöne neue Leben. Einsamkeit begleitete ihn stattdessen in Rheinhausen, die harte Schichtarbeit machte ihn körperlich kaputt. Auch seine Frau Emine und die vier Kinder kämpfen mit dem Alltag in Deutschland. Laut gestritten wird bei den Yilmaz aber nicht, stattdessen herrscht Sprachlosigkeit. 

Die Wohnung in Istanbul ist nun seine Belohnung für all die Entbehrungen. Dort soll seine Familie endlich glücklich sein. Doch das Schicksal meint es nicht gut mit Hüseyin. Als er gerade ins Bad laufen will, um sich auf das Gebet vorzubereiten, spürt er ein Stechen im linken Arm. Der Schmerz breitet sich aus, erfasst ihn mit voller Wucht. Es ist ein Herzinfarkt. Hüseyin stirbt ohne seine Liebsten in der Nähe zu haben. 

Wie es seiner Frau Emine und den vier Kindern Ümit, Sevda, Peri und Hakan danach ergeht, erzählt Autorin Fatma Aydemir in ihrem Roman „Dschinns“. Auch die Vergangenheit ihrer Figuren gibt sie Preis, ermöglicht so ein facettenreiches Bild einer türkischen Gastarbeiter-Familie. 

Stimme aus dem Jenseits

„Dschinns“ ist ein tolles Buch. Fatma Aydemir schreibt mit wunderbar eingängiger und bildhafter Sprache. Die Geschichten sind intensiv erzählt und gehen zu Herzen. Nur dass die Autorin versucht, alle gesellschaftlich aktuellen Themen (Rassismus, Transsexualität, psychische Erkrankungen, Homosexualität) unterzubringen, ist ganz am Ende etwas zu viel des Guten. 

Fatma Aydemir hat „Dschinns“ in sechs Kapitel eingeteilt. Jedem Familienmitglied ist eins gewidmet. Hüseyin und seine Frau Emine bilden den Anfang und das Ende. Während ihre Geschichte in Du-Form erzählt wird, hat sich die Autorin bei den vier Kindern für die erlebte Rede entschieden. Von wem die Du-Stimme kommt, wird nicht konkret benannt, aber es liegt nahe, dass sie von einem übernatürlichen Dschinn ist. 

Was ein Dschinn genau ist, versucht Peri ihrem Bruder Ümit zu erklären. 

„Im Koran steht, Dschinns leben auf der Erde, so wie Menschen auch. (…) Aber wir können sie halt nicht sehen. (…) Dschinns sind alles, was wir komisch finden, anders, unnatürlich.“ 

Quelle: “Dschinns” von Fatma Aydemir

Schwere Identitätskrise

Ümit ist der jüngste Sohn von Hüseyin und Emine. Er ist 15 Jahre alt, sensibel und steckt in einer schweren Identitätskrise. Das Verhältnis zu seinen Eltern ist schwierig. Ümit fragt sich, ob sein schweigsamer Vater ihn überhaupt liebt. Seine Mutter kommt ihm oft zu nahe. 

“Der schwere Atem seiner Mutter ist ganz an Ümits Ohr, wir Geflüster, wie ein Sturm, der Ümits Verstand bedroht. Ümit kennt diesen Atem in seinem Ohr seit seiner Kindheit. Wenn er ihn spürt, heißt das, dass seine Mutter ihm viel zu nahe kommt, dass sie keinen Abstand zulässt, dass sie mit ihm machen kann, was sie will, weil sie seine Mutter ist, und Mütter dürfen das doch. Nicht dass Emine ihm je etwas Böses getan hätte, nicht absichtlich jedenfalls, trotzdem fühlt sich diese Art von Nähe falsch an, wie eine Drohung. Weil sie nicht freiwillig ist, weil Ümit ihr nicht entkommen kann, weil er nichts gegen sie tun kann, ohne sich wie ein respektloser Bastard zu verhalten.”

Quelle: “Dschinns” von Fatma Aydemir

In Deutschland hat er sich außerdem in einen Fußball-Kollegen verliebt. Als das die Runde macht, schickt ihn der Trainer zu einem merkwürdigen Psychologen, der ihm die Homosexualität austreiben möchte. Ümit spricht mit niemandem darüber und ist völlig verunsichert. 

Mit dem Tod seines Vaters kann er gar nicht umgehen. In Istanbul leidet er unter Panikattacken, nimmt Tabletten, die ihn umhauen. 

Unfreiwillige Ehe

Auch die ältere Schwester Sveda hat ein kompliziertes Verhältnis zu ihren Eltern. Sie war schon geboren, als Hüseyin und Emine nach Deutschland gingen, blieb zunächst bei den Großeltern in der Türkei und kam als Jugendliche nach. Statt Bildung sollte sie möglichst schnell einen türkischen Mann heiraten. Sveda lässt sich irgendwann auf die Ehe ein, ist aber unglücklich und schlägt sich schließlich als alleinerziehende Mutter allein durch – ohne die Unterstützung ihrer Eltern. In Istanbul trifft sie Emine nach langer Zeit wieder und konfrontiert sie mit ihrer Enttäuschung.

Interesse an feministischen Theorien

Svedas kleine Schwester Peri scheint den geradlinigsten Weg eingeschlagen zu haben. Sie studiert in Frankfurt und hat ihre Familie hinter sich gelassen. Sie interessiert sich für Schopenhauer, Nietzsche und Judith Butler. Aber auch sie kämpft damit, sich in Deutschland nicht heimisch zu fühlen. 

“Peri dagegen sah sich als Teil von gar nichts. Sie wusste nicht einmal, wo sie herkam. (…) Die Suche nach ihrer Herkunft endete vor dem Schweigen unter dem Schnauzbart ihres Vaters und den unberechenbar tränenreichen und dann wieder wieder wie erstarrten Phasen ihrer Mutter. Assimilation, dachte Peri, hatte eben keine Geschichte. Sie war das Gegenteil von Geschichte. Sie war ihr Ende, ihre Ausrottung. Sie war die Leere im Herzen, wann immer jemand von Heimweh sprach.”

Quelle: “Dschinns” von Fatma Aydemir

Konflikte mit der Polizei

Mit Hakan, dem ältesten Sohn von Emine und Hüseyin, hat Fatma Aydemir den stereotypen Migrantensohn geschaffen, der mit der Polizei in Konflikt gerät. Denn Hakan fliegt nicht nach Istanbul, sondern rast mit dem Auto dorthin – zahlreiche Energy-Drinks halten ihn wach. Dabei gerät er ins Visier der Beamten, wird ungerecht behandelt, kommt zu spät nach Istanbul und verpasst die Beerdigung. 

Überhaupt hat Hakan Probleme mit den Menschen in Deutschland. Während seiner Ausbildung wird er provoziert, verliert die Nerven und damit auch seinen Job. Daraufhin beginnt er ein dubioses Geschäft mit Gebrauchtwagen, das er seiner Freundin Lena verschweigt. 

„Am Ende will Hakan doch bloß leben wie ein normaler Mensch. Die Frau, die er liebt, ab und zu mal zum Essen ausführen, seine Miete bezahlen können und keinen Chef haben, einfach keinen Chef. Als ob Hakan sich das selbst ausgesucht hätte, Kanake zu sein. Als ob er nicht liebend gerne ein unauffälliger Niemand wäre, der es rechtzeitig zur Beerdigung seines Vaters schafft, weil die Bullen ihm nicht aus heiteren Himmel unterstellen, Junkie oder Dealer zu sein.“ 

Quelle: “Dschinns” von Fatma Aydemir

Depressionen durch viele Entbehrungen

Das Ende der Geschichte nimmt Emine ein, die seit Jahren depressiv ist und nachts durch die Wohnung in Rheinhausen geistert. Ihr Leben ist von Schicksalsschlägen und Entbehrungen geprägt. Sveda aber wirft ihr vor, das patriarchiale System zu unterstützen. 

„Es mag stimmen, dass Männer das Sagen haben, ja, es ist 1999, verdammt nochmal, und es ist immer noch so. Aber damit sie das können, damit sie für immer alles bestimmen, dafür brauchen sie, Leute wie dich. Frauen, die andere Frauen für immer kleinhalten. Die ihre Kinder dazu zwingen dasselbe verkackte Leben zu führen, das sie selbst auch hatten.“ 

Quelle: “Dschinns” von Fatma Aydemir

Ein wenig zu viel des Guten am Ende

Im letzten Teil des Buches laufen alle Geschichten zusammen. Es kommt zu einer großen Enthüllung, die mir etwas zu wild war. Der Roman hätte auch ohne die Geschichte um Ciwans Sexualität genug Spannung geboten. 

Trotzdem: „Dschinns“ ist wunderbar geschrieben, emotional mitreißend und soziologisch interessant. Das Buch hat mir noch einmal einen neuen Blick auf die Menschen ermöglicht, die als Gastarbeiter nach Deutschland gekommen sind und alltägliche Kämpfe führen, die für mich bisher unsichtbar waren. Der Roman zeigt auch, warum sich die zweite Generation oft unwohl fühlt, obwohl sie hier aufgewachsen ist. „Dschinns“ stand zu Recht auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises. 

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Hallo, ich bin Miriam

Stets bin ich auf der Reise: durch Karlsruhe, die Kultur und die Welt. Dabei begegnen mir immer wieder interessante Menschen, Bücher, Filme und anderer Krimskrams. Damit all diese Erfahrungen und Eindrücke nicht einsam in meinem Kopf schwirren, gibt es diesen Blog. Aus Grau wird Kunterbunt.

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