26. Dezember 2022

Buchkritik: „Ungezähmt“ von Glennon Doyle

„Ungezähmt“ von Glennon Doyle

„Ungezähmt“: Über eine Frau, die selbstbestimmt ihr Leben gestaltet

Meine Skepsis war riesig, als ich begann, „Ungezähmt“ von Glennon Doyle zu lesen. Ein supererfolgreicher Bestseller aus den USA, bei dem die Autorin darüber schreibt, wie sie sich von gesellschaftlichen Ketten befreite und nun selbstbestimmt lebt – massenkompatibel und leicht verständlich aufbereitet.

„Ist das nicht furchtbar trivial?“, fragte ich die Freundin, die mir das Buch auslieh. Die Gleichberechtigung zwischen Männern und Frauen ist schließlich ein Thema, das mich bereits seit Jahren intensiv beschäftigt. Muss es da noch solch ein gehyptes Buch sein, das sich auch für Einsteigerinnen eignet? „Lies es trotzdem mal, ich bin gespannt auf deine Meinung!“, entgegnete sie lachend.

Nun, einige Wochen später, habe ich das Buch zu Ende gelesen – und bin positiv überrascht.

Geschichten mitten aus dem Leben

Glennon Doyle verknüpft in ihrem Buch viele kleine Anekdoten aus ihrem Leben. Da die Geschichten immer nur wenige Seiten lang sind, ist es sehr kurzweilig zu lesen. Die Amerikanerin hüpft dabei in der Zeit und in der Thematik. Es geht um ihre gescheiterte Ehe mit einem Mann, ihre Beziehung mit einer Frau, über ihre Rolle als Mutter und auch um Rassismus. Sie streift dadurch Themen, mit denen sich wohl die meisten Frauen zwischen 25 und 50 Jahren auseinandersetzen.

Bei der Vielzahl an Erzählungen ist zwar nicht jedes einzelne Kapitel ein Volltreffer und auch die religiösen Aspekte tangierten mich wenig. Jedoch hat es Glennon Doyle geschafft, dass ich an mehreren Stellen innehielt und das Gefühl hatte, sie spricht mir genau aus dem Herzen. Oder ich länger über ihre Aussagen nachdachte.

Wo sind die Ketten versteckt?

Ein Fokus ihrer Geschichten liegt darauf, dass viele Menschen gar nicht erkennen, in welchen gesellschaftlichen Zwängen sie leben.

All die Überzeugungen von sollte und müsste und sollte nicht, von richtig und falsch, von gut und schlecht sind nicht wahrhaftig. Sie sind nicht echt. Sie sind nichts weiter als kulturell konstruierte, künstliche, sich ständig umformende Käfige, einzig zur Aufrechterhaltung von Institutionen geschaffen. Mir wurde bewusst, dass die Vorstellungen von richtig und falsch in jeder Familie, in jeder Gesellschaft oder Religion als elektrische Viehtreiber fungierten, als bellende Schäferhunde, die die Masse im Zaun halten. Sie sind die Gitterstäbe, die uns gefangen halten.

Viel Schmerz und Kummer

Glennon Doyle ist in ihren 40ern und hat ein bewegtes Leben bereits hinter sich. Essstörungen, Alkoholprobleme und ein Ehemann, der sie betrog. Mit Gefühlen und Schmerz konnte sie lange Zeit nur schlecht umgehen. Um ihren drei Kindern ein gutes Leben zu bieten, blieb sie bei ihrem Mann – bis sie sich eines Tages hoffnungslos in eine Frau verliebt.

Mir wurde klar: Wenn ich weiter das „Richtige“ tat, würde ich mein Leben damit verbringen, die Anleitungen anderer zu befolgen anstatt meine eigenen.

Glennon Doyle beschließt, mutig zu sein, trennt sich und kommt mit der Frau zusammen. Sie lernt, auf ihr Bauchgefühl zu hören, bei sich zu sein und sich nicht von den Ansichten anderer Menschen leiten zu lassen. Sie erkennt, dass sie ihren Kindern auch gewisse Dinge zumuten kann.

Seit jeher haben Mütter sich im Namen ihrer Kinder aufgeopfert. Wir haben gelebt, als würde die, die am gründlichsten verschwindet, am meisten lieben. Wir wurden dazu konditioniert unsere Liebe zu beweisen, in dem wir uns selbst langsam, aber sicher auslöschten. (…) Was, wenn Liebe in Wirklichkeit nicht der Prozess ist, für seine Liebsten zu verschwinden, sondern für seine Liebsten sichtbar zu werden?

Ein Buch, das Mut macht

“Ungezähmt“ zeigt den Lesenden mit vielen alltäglichen Beispielen auf, wo sie vielleicht unwissentlich selbst in konventionellen Normen gefangen sind, und macht Mut, sich daraus zu befreien – selbst wenn es weh tun kann. Die Autorin erklärt anhand ihrer eigenen Biografie, dass Scheitern oder Schmerz keineswegs ein Versagen sind, sondern auch eine Chance sein können, zu wachsen und sich weiterzuentwickeln.

Ich weiß, wenn Schmerz und Warten da sind, ist Wachstum schon auf dem Weg. Natürlich hoffe ich, dass der Schmerz schnell wieder vergeht, aber ich sitze ihn inzwischen aus, weil ich inzwischen genug Erfahrung gesammelt habe, ihm zu vertrauen. Und weil die, die ich morgen sein werde, so unvorhersehbar und einzigartig ist, dass ich jedes einzelne Teilchen der heutigen Lektion brauchen werde, um sie zu werden.

Zurecht ein Bestseller

Die Geschichten von Glennon Doyle bringen zwar keine revolutionären neuen Erkenntnisse – vor allem für Menschen, die sich bereits durch Therapie oder Literatur mit sich selbst, Grenzen setzen oder Feminismus auseinandergesetzt haben. Auch habe ich manche Kapitel überblättert, wenn es mir zu religiös oder kitschig wurde.

Das Buch ist aber zurecht ein Bestseller. Die Autorin transportiert mit einfachen Worten wichtige Botschaften – und wenn deshalb einige Menschen nochmals über ihr Leben nachdenken und eventuell sogar etwas verändern, ist das doch ein sehr wertvoller Effekt.

(Visited 582 time, 1 visit today)

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Hallo, ich bin Miriam

Stets bin ich auf der Reise: durch Karlsruhe, die Kultur und die Welt. Dabei begegnen mir immer wieder interessante Menschen, Bücher, Filme und anderer Krimskrams. Damit all diese Erfahrungen und Eindrücke nicht einsam in meinem Kopf schwirren, gibt es diesen Blog. Aus Grau wird Kunterbunt.

Newsletter abonnieren
Etwas verloren?
Vergangenes
Facebook
Instagram
Instagram@miriam_steinbach