28. Oktober 2020

Heimat: “Japan”

Credit: JJ Ying

Japanischer Wind in meinem Leben!

Mein Mitbewohner kommt aus Japan. Bevor er mit seinen Koffern und Kisten vor der Wohnungstür stand, hatte ich mich nur wenig mit dem fernöstlichen Land beschäftigt. Sushi, Mila Superstar, Fukushima. Das waren bis zu unserer Begegnung die ersten drei Substantive, die mir zu Japan einfielen.

Mein Wissen ist in den vergangenen Monaten enorm gewachsen. Ich weiß, dass in Japan Umarmungen bei der Begrüßung unüblich sind, die Emanzipationsbewegung der Frauen deutlich hinter der in Deutschland ist und es Okinawa gibt, eine Insel, die so traumhaft aussieht, dass ich dort unbedingt hin möchte.

Credit: Vladimir Haltakov

Respekt & Höflichkeit

Auch über das Wertesystem in Japan habe ich viel erfahren. Rücksichtnahme spielt eine immense Rolle. Harmonie in einer Gruppe zu wahren, gilt als oberstes Ziel. Dafür stellt der Einzelne auch mal seine Bedürfnisse zurück.

Ich habe außerdem selten so höfliche Menschen wie meinen Mitbewohner getroffen. Als wir zum ersten Mal zusammen aßen, spürte ich schnell, dass etwas anders ist. Wir legten zur gleichen Zeit Messer und Gabel beiseite. Das ist unüblich für mich.

Beim Essen mit meinen anderen Freunden und Kollegen bin ich stets die Letzte, die fertig ist. Er dagegen passte sein Ess-Tempo meinem an. Eine Situation, die ich schön fand. Ich spürte: Aufeinander achten, sich gegenseitig wahrnehmen, das ist wichtig.

Als wir nun am vergangenen Wochenende zusammen frühstückten und währenddessen die Nachrichten lasen, blickte er mich plötzlich fragend an und meinte: „Warum genau haben Menschen in Deutschland so große Probleme damit, Masken zu tragen?“

Der Schutz der Mitmenschen

In Japan, erklärte er mir, tragen Menschen selbstverständlich Masken in der Öffentlichkeit. Nicht um sich, sondern um andere zu schützen. Sie nehmen Rücksicht dadurch aufeinander. Es ist eine Frage des gegenseitigen Respekts. Auch vor dem Corona-Virus griffen Japaner bei den ersten Anzeichen einer Erkältung oder einer Grippe zur Maske, um andere nicht anzustecken. Das gehörte zur Höflichkeit dazu.

Sein Worte brachten mich zum Nachdenken. Meine übriggebliebenen Kenntnisse aus dem Soziologie-Studium vermischten sich mit den aktuellen Entwicklungen um das Corona-Virus. „In den westlichen Nationen hat der Individualismus überhandgenommen – viele Menschen schauen eben erstmal nach sich“, entgegnete ich.

Es gibt keine übergeordneten Orientierungspunkte mehr. Die Religion, die vielen Menschen lange als Fixpunkte diente, tritt immer mehr zurück – und hat eine leere Fläche hinterlassen. Der Mensch kreiselt um sich selbst.

Party am Ballermann

In dieser Corona-Krise spüre ich das wieder an allen Ecken – egal ob in den Medien oder in meinem alltäglichen Leben. Immer wieder dreht es sich bei vielen Menschen darum: Wie verschaffe ich mir selbst den größtmöglichen Vorteil? Wie muss ich selbst am wenigsten verzichten? An den Ballermann fahren und Party machen trotz Corona-Virus? In München dicht gedrängt bei Wirtshaus-Oktoberfesten an Tischen sitzen. Bei der Arbeit im Büro ohne Masken durch die Zimmer laufen und in den Pausen in größeren Gruppen zusammen essen, als gäbe es keine Pandemie. Das ist alles passiert.

Als ich vor wenigen Wochen in Leipzig war, sprach in der Bahn ein älterer Herr einen jungen Mann höflich darauf an, dass seine Maske nicht über der Nase sitzt. Daraufhin explodierte der Träger des „Mund-Schutzes“. Er fauchte den Senioren an, was ihm einfällt, sich einzumischen, wie er seine Maske trage. Bedrohlich machte er einen Schritt auf den Herrn zu. Dieser schaute schnell weg, wohl aus Angst, Schläge abzubekommen.

Die Bahnen sind immer pünktlich!

In Japan, erklärte mir mein Mitbewohner, gibt es kein wildes Gedränge vor der Bahn, sondern Warteschlangen. Schon die kleinsten Kinder lernen, in öffentlichen Verkehrsmitteln leise zu sein und die anderen Fahrgäste nicht zu stören. Außerdem sind die Bahnen dort immer pünktlich. Wenn ich manchmal mit den Straßenbahnen durch Karlsruhe kurve, dort Leute laut telefonieren, sich mehr anbrüllen als gesittet zu unterhalten, muss ich daran nun oft denken.

Natürlich gibt es auch in Japan Probleme. Ständige Rücksichtnahme kann zu Depressionen führen. Viele Dinge bleiben unausgesprochen und in den Menschen verhaftet. Und es gibt auch derzeit Einzelne, die ausbrechen und Partys veranstalten. Nur: Die große Mehrheit hält sich an die Regeln. Die Corona-Krise bewältigen Menschen in Japan mit ihren Werten besser. Masken tragen, Abstand halten: Das ist für sie eine Frage der Kultur.

Brauchen wir wirklich den Zwang?

Mich hat es in den vergangenen Monaten überrascht, wie viele Menschen in Deutschland ihre Bedürfnisse nicht einmal für einen vorübergehenden Zeitraum zurücknehmen können. Wie schlecht sie mit der Freiheit umgehen können, wie wenig Weitsicht in vielen Köpfen ist und dass es wohl einen erneuten Lockdown benötigt, damit die Zahlen der Infizierten wieder sinken.

Mit der Inkonsequenz bringen wir aber nicht nur uns selbst und unsere Gesundheit in Gefahr, sondern schaden auch all den Menschen, die Künstler sind oder in der Gastronomie, der Hotellerie und Veranstaltungsbranche arbeiten. Schließlich leben wir nicht autark in Mini-Gruppen, sondern in einem großen System, in dem letztlich alles miteinander verbunden ist. Ein bisschen mehr Gemeinschaft, mehr Rücksichtnahme und Hilfsbereitschaft. Ich finde, wir können noch viel von Japan lernen.

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Hallo, ich bin Miriam

Stets bin ich auf der Reise: durch Karlsruhe, die Kultur und die Welt. Dabei begegnen mir immer wieder interessante Menschen, Bücher, Filme und anderer Krimskrams. Damit all diese Erfahrungen und Eindrücke nicht einsam in meinem Kopf schwirren, gibt es diesen Blog. Aus Grau wird Kunterbunt.

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