21. August 2023

Buchkritik: “Herkunft” von Saša Stanišić

"Herkunft" von Saša Stanišić

“Herkunft” von Saša Stanišić: biografische Lücken mit Fantasie gefüllt

Es regnet, als Saša Stanišić am 24. August 1992 mit seiner Mutter in Heidelberg ankommt. Nur drei braune Koffer haben sie bei sich. Es liegen anstrengende Tage hinter ihnen, in Bosnien ist der Krieg ausgebrochen. Bosnisch-serbische Truppen haben ihr Heimatdorf Višegrad besetzt. Die Stanišićs müssen fliehen.

Für den 14-jährigen Saša beginnt in Deutschland ein komplett neues Leben – zunächst in einem Wohnhaus im Gewerbegebiet zwischen Wiesloch und Walldorf, mit sechs weiteren Flüchtlingsfamilien, die sich zwei Herdplatten teilen müssen.

Später können die beiden Geflüchteten in einen Bungalow im Heidelberger Stadtteil Emmertsgrund ziehen. Sašas Vater und die Großeltern sind inzwischen auch in Deutschland. Ihr gemeinsames Leben ist jedoch zeitlich begrenzt: Während Saša Stanišić wegen seines Studiums in Deutschland bleiben darf, werden seine Eltern 1998 abgeschoben und emigrieren nach Florida.

Biografische Lücken mit Fantasie gefüllt

Wie Saša Stanišić diese prägende Zeit erlebt hat und was für ihn der Begriff „Heimat“ bedeutet, erzählt er in seinem bewegenden Buch „Herkunft“ – ein außergewöhnliches Werk, in dem der Autor biografische Lücken mit Fantasie ausschmückt und am Ende für seine Leser*innen eine interaktive Abenteuerreise bereithält. “Herkunft” bekam den Deutschen Buchpreis, viele Kritiker*innen haben es mit großem Lob überhäuft.

Der Einstieg ist nicht einfach

Jedoch: Ich benötige Zeit, um einen Zugang dazu zu finden – vor allem mit den ersten 50 Seiten tue ich mir sehr schwer. Zum einen ist es die Sprache, die zwar poetisch und bis ins kleinste Detail durchdacht ist, aber an manchen Stellen so überladen ist, dass es den Lesefluss holprig macht. Bestimmte Sätze musste ich zweimal lesen, weil ich sie nur schwer aufnehmen konnte.

Außerdem sind für mich die sagenhaften Elemente um Drachen und den Heiligen St. Georg zu mythisch. Vor allem beim interaktiven Teil „Drachenhort“ steige ich aus. Die kreative Konstruktion, bei der ich als Leserin selbst die Geschichte bestimmen kann, ist angelehnt an Adventure-Bücher, die der Autor gerne in der Kindheit las. Es ergibt deshalb auch ein rundes Bild, dass er dieses Element selbst in sein Werk einbaut, aber meinen Geschmack trifft er damit nicht. Bereits am Anfang warnt er selbst vor:

„Ich werde einige Male ansetzen und einige Enden finden, ich kenne mich doch. Ohne Abschweifungen wären meine Geschichten überhaupt nicht meine. Die Abschweifung ist Modus meines Schreibens. My own adventure.“

Quelle: “Herkunft” von Saša Stanišić

Wie lässt sich Herkunft bestimmen?

Gleichwohl: Im Gesamten mag ich das Buch sehr gerne. Die zentrale Frage, um die sich die kurzweiligen Erzählungen in “Herkunft” drehen, ist: Nach welchen Kriterien lässt sich Herkunft überhaupt bestimmen?

“Jedes Zuhause ist ein zufälliges: Dort wirst du geboren, hierhin vertrieben, da drüben vermachst du deine Niere der Wissenschaft. Glück hat, wer den Zufall beeinflussen kann. Wer sein Zuhause nicht verlässt, weil er muss, sondern weil er will.

Quelle: “Herkunft” von Saša Stanišić

Spurensuche in Bosnien

Um mehr über sein Heimatland und seine Vergangenheit herauszufinden, begibt er sich mit seiner Oma Kristina 2009 auf Spurensuche in Bosnien. Es ist das letzte Jahr, in dem es ihr gutgeht. Danach erkrankt sie, wird dement. Großmutter Kristina verliert nach und nach die Kontrolle über ihr Leben. Das Kapitel “Drachenhort” ist komplett ihrem Sterben gewidmet.

„,Herkunft’ ist ein Abschied von meiner dementen Großmutter. Während ich Erinnerungen sammle, verliert sie ihre.“

Quelle: “Herkunft” von Saša Stanišić

Saša Stanišić ordnet seine Erinnerungen aus der Vergangenheit nicht chronologisch an, vielmehr sind es einzelne Mosaiksteine aus verschiedenen Zeiten und Orten, die nach und nach ein größeres Bild ergeben. Die Kapitel sind sehr kurz und zum größten Teil in sich abgeschlossene Anekdoten.

Paraden, Pionierliedern und Patriotismus

Sehr interessant fand ich unter anderem die Geschichten aus seiner Zeit in Jugoslawien. Im Fußballstadion dem „Roten Stern Belgrad“ zujubeln, Bücher lesen und Computerspiele spielen: Bevor der Krieg beginnt, erlebt Saša Stanišić dort eine relativ unbeschwerte Kindheit, Er zählt von Paraden, Pionierliedern und Patriotismus, die dort üblich waren.

„Jugoslawien. Der Sozialismus war müde, der Nationalismus wach.“

Quelle: “Herkunft” von Saša Stanišić

Stark: die Anekdoten aus Heidelberg

Aber auch die Anekdoten aus Heidelberg sind wunderbar kurzweilig. Mit seiner Familie wohnt er im Emmertsgrund, wo besonders viele Migranten leben. Es ist kleiner Melting Pot in der beschaulichen Neckarstadt. Touristen schauen dort selten vorbei.

Saša Stanišić ermöglicht einen sehr genauen Blick, wie es Menschen geht, die vor einem Krieg flüchten müssen. Er erzählt von den Kämpfen seiner Eltern, die als Akademiker plötzlich Hilfsjobs auf dem Bau und in einer Wäscherei annehmen müssen, von Rassismus-Erfahrungen und der Herausforderung, eine komplett neue Sprache erlernen zu müssen.

Ein sehr differenziertes Bild!

Was ich besonders gerne mag: Saša Stanišić rutscht nie in das Anklagende und Verbitterte ab. Er zeichnet vielmehr ein differenziertes Bild. Es sind sogar Kapitel darunter, die mich sehr zum Lachen brachten. Sein Fazit:

„Meine Rebellion war die Anpassung. Nicht an eine Erwartung, wie man in Deutschland als Migrant zu sein hatte, aber auch nicht dagegen. Mein Widerstreben richtete sich gegen die Fetischierung von Herkunft und gegen das Phantasma nationaler Identität. Ich war für das Dazugehören. Überall, wo man mich haben und wo ich sein wollte. Kleinsten gemeinsamen Nenner finden: genügte.“

Quelle: “Herkunft” von Saša Stanišić

„Herkunft“ ist ein sehr kluges Buch, das zum Nachdenken anregt und den Blick auf das Leben erweitert.

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Hallo, ich bin Miriam

Stets bin ich auf der Reise: durch Karlsruhe, die Kultur und die Welt. Dabei begegnen mir immer wieder interessante Menschen, Bücher, Filme und anderer Krimskrams. Damit all diese Erfahrungen und Eindrücke nicht einsam in meinem Kopf schwirren, gibt es diesen Blog. Aus Grau wird Kunterbunt.

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