1. Januar 2024

Buchkritik: “Die Wut, die bleibt” von Mareike Fallwickl

"Die Wut, die bleibt", Mareike Fallwickl

“Die Wut, die bleibt”: ein Roman, der zum Diskutieren anregt

Irgendwann habe ich aufgehört, die Screenshots zu zählen, die ich Freundinnen schicke, während ich „Die Wut, die bleibt“ lese. An so vielen Stellen schreibt Autorin Mareike Fallwickl so treffend über die Probleme und Herausforderungen von Frauen, die wie ich in den 1980er-Jahren geboren sind. 

Wir haben alle Möglichkeiten, die Gleichberechtigung ist gesetzlich verankert. Aber in der Realität sind viele Frauen mit der Betreuung von Kindern, Mental Load und ihrem Job am Limit, setzen sich in Beziehungen zu wenig für sich selbst ein. Das Resultat ist oft: Männer machen Karriere, Frauen brechen zusammen. 

Ein Mutter stürzt sich vom Balkon

So geht es auch der Protagonistin Helene, die in Salzburg lebt. Die dreifache Mutter ist nach der Corona-Pandemie völlig erschöpft. Ihre Tochter Lola hat sie während des Studiums bekommen und ohne Vater großgezogen. Lola ist jetzt ein Teenager und hat mit den typischen Problemen zu kämpfen – wie will ich aussehen, welche Figur möchte ich haben? Mit ihrer Mutter gerät sie immer wieder wegen Kleinigkeiten aneinander.

Außerdem hat Helene mit ihrem Mann Johannes zwei Söhne. Maxi ist im Kindergartenalter, Lucis anderthalb Jahre alt. Da Helene für ihren Jüngsten keinen Betreuungsplatz bekommen hat, muss sie sich den ganzen Tag um ihn kümmern und kann nicht arbeiten gehen. 

Während der Corona-Pandemie sind oft alle drei Kinder zu Hause. Helene ist nach dieser anstrengenden Zeit so sehr mit den Nerven am Ende, dass sie während eines hektischen Abendessens wortlos aufsteht, auf den Balkon geht, hinunterspringt und stirbt.

Zwei Frauen-Perspektiven

Mit ihrer Beerdigung beginnt Mareike Fallwickl die Geschichte zu erzählen – aus zwei Perspektiven:

  • Sarah: Sie ist seit der Kindheit Helenes beste Freundin und eine erfolgreiche Autorin. Sie lebt in einem großen Haus, wo sich auch ihr jüngerer, gut aussehender Freund Leon eingerichtet hat. Während sie sich nach Verbindlichkeit und Familie sehnt, scheint er damit keine Eile zu haben. Wie Helene spiegelt auch sie die Frauengeneration der Millenials wider. Typisch für sie ist, dass sie bis zum Studium alle Freiheiten genossen haben, dann aber durch Heirat und Kinder oft wieder in traditionelle Rollen schlüpfen (Helene). Oder wie Sarah: Frauen, die beruflich erfolgreich sind, sich aber in Beziehungen klein machen und aus mangelndem Selbstwertgefühl ihre Wünsche nicht artikulieren.
  • Lola: Sie verkörpert die Generation Z. Sie liest Bücher über Feminismus, gendert, möchte sich selbst verteidigen können. Für Lola ist die Generation von Sarah und Helene viel zu weich und steht zu wenig für sich selbst ein. Für Lola ist sogar Gewalt, um sich an Männern zu rächen, ein legitimes Mittel. Sie ist nach dem Tod ihrer Mutter emotional am Boden und sucht nach einem Ventil für die große Wut, die in ihr ist. Halt findet sie in einer Girl-Gang. 

Sie ist kein Mädchen mehr, sondern eine Dynamitstange. Die explodiert, wenn man eine falsche Frage stellt. Die mit verblüffender Selbstverständlichkeit im Redefluss gendert und dieses LGBTQ nicht nur mit souveräner Schnelligkeit ausspricht, sondern auch weiß, was es bedeutet. Sarah ist nicht alt genug, um stolz erzählen zu können, sie und Helene hätten in ihrer Jugend brennende Bhs geschwenkt, Sie sind Anfang der Achtziger geboren, ein für die Geschichtsbücher relevantes Aufbegehren hat es da nicht gegeben, Womöglich hätten Sarah und Helene an der Revolution teilgenommen. Aber es gab keine. 

Quelle: “Die Wut, die bleibt”

Sarah übernimmt die Mutterrolle

Um Johannes und die drei Kinder nach Helenes Tod zu unterstützen, zieht Sarah vorübergehend bei ihnen ein und wird damit konfrontiert, was es für Helene bedeutet hat, Mutter zu sein. 

Die Kümmerpflicht gilt für die Mütter. Johannes hat die Kinder auch bekommen, aber er muss irgendwie gar nichts. Über die Leere solcher Tage, die sich lähmend über das Gehirn legt, weil man sich mit nichts anderem beschäftigt als mit physischer Versorgung, Brei kochen, Brei in den Kindermund stecken, Kacke vom Kinderhintern abwischen, den Kinderkörper tragen, den Kinderkörper schützen vor Stürzen, Schnitten, Verbrennungen, den Schlaf herbeisingend, spricht niemand. Es gibt keinen Raum für solche Gespräche, keine Schutzzone. Eine Mutter ist eine Mutter ist eine Mutter. 

Quelle: “Die Wut, die bleibt”

Mareike Fallwickl trifft die typischen Situationen einer Mutter in der heutigen Zeit so gut, dass ich beim Lesen immer wieder denke: Oh ja, genau so ist es.

„Ich habe nicht gewusst, wie das geht, sagt sie, ich hatte keine Ahnung. Wie ich sie halten muss, warum sie schreit, wie ich sie anziehen soll, ohne sie zu verletzten, wie lange sie schlafen soll und wie ich sie zum Einschlafen bringe, wieso sie rote Flecken am Bauch hat und ob wir damit zum Arzt müssen, ich wusste gar nichts. (…) Keiner von uns ist es angeboren, es gibt kein geheimes Wissen, das uns zu Müttern macht, keinen Genvorteil. Aber jeder erwartet von uns, dass wir ab der Sekunde der Geburt nie einen Fehler im Umgang mit einem Kind machen, weil wir angeblich einen Instinkt dafür haben. 

Quelle: “Die Wut, die bleibt”

Oder: 

Sie hat einen Countdown im Kopf, es ist ihr peinlich vor ihr selbst. Noch sechs Stunden, bis Johannes kommt. Viereinhalb Stunden, bis Lola aushat. Noch drei, noch zwei. Und dazwischen schiebt sich die Zärtlichkeit. (…) Die Berührungsbedürftigkeit der Kinder hat etwas verstörend Invasives und ist gleichzeitig so entwaffend, dass man sich ihr nicht verweigern kann. 

Quelle: “Die Wut, die bleibt”

Authentische Einblicke in die Mutterrolle

Diese Beschreibungen der Herausforderung, eine Mutter zu sein, macht für mich die große Stärke des Romans aus. Ebenso wie die unglaublich bildhafte und eingängige Sprache der Autorin. Sie schafft es dadurch, mich völlig in das Geschehen hineinzuziehen. 

Kritisch sehe ich jedoch, wie viel die Frauen den Männern durchgehen lassen. Viel zu lange darf sich Johannes den Care-Arbeiten entziehen – während der Corona-Pandemie und auch nach dem Tod seiner Frau flüchtet er sich in die Arbeit. Nicht nur Helene, auch Sarah lässt ihm vieles durchgehen, bis ihr ausgerechnet die viel jüngere Lola klarmacht, dass sie Grenzen setzen muss, auch bei ihrem Freund Leon.

Aber ist es wirklich realistisch, dass sich ein Mann nach dem Tod seiner Frau kaum um seine Kinder kümmert? Es ist in diesem Fall ein sehr negatives Vaterbild.

Darf frau Gewalt mit Gewalt begegnen?

Die Figur der Lola irritiert mich beim Lesen am meisten. Probleme wie Essstörungen und Selbstverletzungen kann ich noch nachvollziehen. Mit den Gewalt-Aktionen ihrer Girl-Gang habe ich jedoch Probleme. Auch wenn sie nur Männer auflauern, die zuvor Frauen verletzt haben, sträubte sich alles in mir, wenn ich von den Überfällen lese. Gewalt mit Gewalt zu begegnen, ist für mich keine Lösung. 

Utopisches Ende

Auch das Ende des Buches ist für mich leider nicht gelungen. Ohne zu viel zu verraten: Was Lola am Ende macht, ist für mich völlig realitätsfern. Das passt für mich auch nicht zu der an vielen Stellen so authentischen Geschichte. Es ist eher eine Utopie, die ich unpassend und enttäuschend finde. 

Dennoch: „Die Wut, die bleibt“ ist insgesamt ein fulminanter Roman, den ich unglaublich gerne gelesen habe. Er hat mich zum Nachdenken angeregt, vereint viele Probleme, die Frauen meiner Generation haben, und zeigt durch Sarahs Entwicklung auch, wie es Lösungen geben kann. Die Kritikpunkte, die ich habe, bieten außerdem Raum zum Diskutieren – was toll ist, wenn ein Buch neuen Gesprächsstoff mit Freund*innen liefert.

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Hallo, ich bin Miriam

Stets bin ich auf der Reise: durch Karlsruhe, die Kultur und die Welt. Dabei begegnen mir immer wieder interessante Menschen, Bücher, Filme und anderer Krimskrams. Damit all diese Erfahrungen und Eindrücke nicht einsam in meinem Kopf schwirren, gibt es diesen Blog. Aus Grau wird Kunterbunt.

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