Flimmerkasten: “Parasite”
Eine emotionale Wucht: der Oscar-Gewinner “Parasite” – Filmkritik
Wo genau können sie in ihrer Bruchbude auf die W-LAN-Netzwerke der Nachbarn zugreifen? Das ist zu Beginn von „Parasite“ das Hauptproblem der vierköpfigen Familie Kim. Ihre Handyrechnungen haben sie alle nicht bezahlt, der Zugang zur Online-Welt ist für sie dadurch gekappt.
Sie haben aber Glück an diesem Tag. Nach kurzem Suchen wird Tochter Ki-Jung im schäbigen Badezimmer fündig. Neben der verdreckten Toilette klappt es, die Verbindung steht, endlich können sie wieder chatten und mit anderen Kontakt aufnehmen – unter anderem mit dem Pizza-Lieferservice, für den die komplette Familie Kartons faltet.
Eine Gesellschaftskritik, die es in sich hat
Der mehr als 200-mal prämierte südkoreanische Film „Parasite“ beginnt harmlos und mit viel Sarkasmus. Mehr als eine Stunde lang ist der vierfache Oscar-Gewinner ein wahrhaft cooles, unterhaltsames Werk über die armen, aber gerissenen Kims, die sich nach und nach in das Haus einer reichen Familie einschleichen und damit die Chance nutzen, ein wenig vom Luxus abzubekommen.
“Parasite” ist dadurch eine bitterböse Gesellschaftskritik, die die Unterschiede zwischen der oberen und unteren Schicht aufzeigt – aber keineswegs oberflächlich, sondern mit leisen Zwischentönen und bis ins kleinste Detail ausgefeilt. Auch der Soundtrack ist perfekt, immer wieder erklingen klassische Melodien, unterstreichen Eleganz oder Dramatik.
Mein Problem: Ich hatte ausschließlich sehr positive Kritiken gelesen. In keiner von ihnen ging es darum, wie extrem düster der Film von Regisseur Bong Joon-Ho im letzten Drittel wird. Die Brutalität am Ende traf mich dadurch unvorbereitet und hammerhart.
Familie Kim schleust sich ein
Was „Parasite“ aber definitiv sehenswert macht: Er ist von der ersten bis zur letzten Sekunde meisterhaft inszeniert, hat keine Längen und wirkt lange nach. Im Mittelpunkt steht zunächst Ki-Woo, der Sohn der Familie Kim. Durch einen alten Schulfreund bekommt er einen Job als Nachhilfelehrer bei der reichen Familie Park. Dafür fälscht er mit seiner Schwester Zeugnisse und gibt sich als Student aus. In der cleanen Villa darf er von nun an der 16-jährigen Da-hye Park beim Englischlernen helfen.
Kunst statt Kakerlaken
Die Welt der Familie Park könnte kein größerer Kontrast für Ki-Woo sein. Die Villa ist voll mit den vornehmsten Designer-Möbeln und Kunstwerken, eine Haushälterin reicht frischgeschnittenes Obst, alles ist fein, es blitzt und blinkt an jeder Ecke. Selbst die Hunde sehen nobel aus. Kakerlaken gibt es dort keine.
Ki-Woo Kim findet schnell einen Dreh, die naive Frau Park zu manipulieren und sorgt dafür, dass seine Schwester als Kunsttherapeutin für den kleinen Sohn der Parks in der Villa arbeiten kann. Es ist erst der Anfang. Nach und schleusen sie außerdem ihren Vater als Fahrer für Herrn Park ein und ihre Mutter als neue Haushälterin.
Den Bogen überspannt!
Alles läuft wie geplant. Die Parks sind zufrieden, die Kims genießen ihr neues Leben. Das Problem: In ihrer Euphorie werden sie unvorsichtig. Als die Parks für einen Campingausflug verreisen, nisten sich die Kims zu viert in der Villa ein und lassen es sich gutgehen – sie baden ausgiebig in der edlen Wanne, plündern den Kühlschrank und vernichten die Alkoholvorräte. Als es plötzlich an der Tür klingelt, ist klar, dass es wohl kein gutes Ende nehmen wird. Die Spannung steigt nun kontinuierlich.
Ein differenzierter Blick auf beide Seiten
Regisseur Bong Joon-Ho gelingt es über den gesamten Film hinweg, einen sehr differenzierten Blick auf beide Familien zu werfen. Er zeigt, wie schmal die Wege manchmal sind, die über Erfolg oder Misserfolg im Leben entscheiden können. Eine falsche Abzweigung oder eine Absage an der Universität kann den Ausschlag geben.
Auch wenn der Filmtitel und die Anfangsszene mit dem W-LAN darauf hindeuten: Typische Parasiten sind die Kims in der Villa nicht. Sie arbeiten alle vier mit Disziplin, stehen sofort parat, wenn ihr Handy klingelt und Familie Park etwas braucht. Durchweg gut sind sie aber nicht: Als sie mit ebenfalls Hilfsbedürftigen konfrontiert sind, zeigen sie keinerlei Mitgefühl, sondern agieren knallhart.
Auch Familie Park wird in keine Schublade gepresst. Sie behandeln ihre Angestellten mit Anstand und Würde, laden sie auch ein, wenn eine Familienfeier ist. Letztlich zeigt sich aber durch eine unbedachte Aussage eine intrinsische Erhabenheit, die widerspiegelt, wie sie auf ihre Angestellten herabschauen – und was Herrn Park letztlich zum Verhängnis wird.
Seinen Zweck erfüllt
„Parasite“ ist dadurch auf der einen Seite ein unglaublich klug konzipierter, intensiver und ästhetischer Film, der mich aber auf der anderen Seite mit seiner Gewalt überforderte und emotional erschlagen auf meinem Kinosessel zurückließ. Nochmals werde ich mir „Parasite“ wohl nicht mehr ansehen. Aber er hat definitiv etwas in mir ausgelöst, mich zum Nachdenken gebracht, mich noch Tage danach beschäftigt. Wenn ein Film das schafft, hat er seinen Zweck komplett erfüllt.
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