16. Juli 2021

Schmöker: “Wir Strebermigranten” von Emilia Smechowski

"Wir Strebermigranten" von Emilia Smechowski

Kritik von “Wir Strebermigranten”: ein spannendes Buch über polnische Einwanderer

Nur nicht auffallen. Das ist die Maxime für Emilia Smechowskis Familie, als sie 1988 aus Polen in Deutschland ankommt. Emilia ist damals fünf Jahre alt. Ihr gesamtes Leben steht auf dem Kopf, alles ist anders in Berlin. Die Menschen, die Sprache und auch ihr Name: aus Emilka wird Emilia.

Für ihre Eltern, zwei Mediziner, ist wichtig: Sie möchten sich so schnell wie möglich integrieren, nicht als Ausländer wahrgenommen werden. Das bedeutet für sie: immer diszipliniert sein, hart arbeiten und in der Öffentlichkeit kein Polnisch sprechen. Die Smechowskis werden in Deutschland quasi unsichtbar.

„Wir hielten uns fern von unseren Landsleuten. Wenn es in dieser Zeit so etwas wie Integrationsmeisterschaften gegeben hätte, wir hätten jedes Jahr Gold geholt. Wir verzichteten auf eine Bindestrich-Identität als Deutsch-Polen und wurden fast deutscher als deutsch. Die Wissenschaft nennt das Assimilation.“

In dem Buch „Wir Strebermigranten“ erzählt die „Zeit“-Redakteurin Emilia Smechowski ihre polnische Familiengeschichte – mit vielen Anekdoten, soziologischen Aspekten und geschichtlichen Fakten. Das ist sehr interessant, klug und kurzweilig zu lesen. Durch das Buch bekam ich einen ganz neuen Blick auf Polen und die zugewanderten Menschen.

Ein polnischer Abgang!

Ihr Auto ist vollbepackt mit Luftmatratzen und Strandkleidern, als die Smechowskis 1988 aus Wejherowo nach Deutschland ausreisen. Um die polnische Grenzen passieren zu dürfen, geben sie vor, nach Rimini in den Urlaub zu fahren. Von Freunden und Verwandten verabschieden sie sich nicht. Zu groß ist das Risiko, dass ihre Ausreisepläne auffliegen.

Emilias Eltern wollen unbedingt raus aus dem tristen Polen, das kapitalistische System im Westen lockt sie mit dem unbegrenzten materialistischen Angebot und der Freiheit.

„Der Sozialismus war (…) grau und stank nach Kohle. Es gab weder Perspektive noch Möbel, Grundnahrungsmittel wurden rationiert. Es kam vor, dass die Butterpreise von einem Tag auf den anderen um das Zwölffache schwankten. Polnische Läden sahen aus, wie Läden heute aussehen, bevor sie dichtmachen: Man sieht viel vom Regal und wenig Ware.“

Kaum polnische Kultur in Deutschland!

Von 1987 bis 1990 kommen insgesamt 550 000 Aussiedler*innen aus Polen nach Deutschland, schreibt Emilia Smechowski. Trotzdem gibt es kaum polnische Kultur in Deutschland. Es gibt keine Filme wie „Almanya“ (türkische Kultur) oder „Alles auf Zucker“ (jüdische Kultur). Miroslav Klose und Lukas Podolski glänzen in der Nationalmannschaft – ohne dass es um ihre Vergangenheit oder Integration geht.

Das liegt vor allem daran, dass nicht nur die Smechowskis ihre alte Identität vollständig unterdrücken. Es ist ein kollektives Phänomen der Aussiedler aus Polen. Sie integrieren sich so vorbildlich, dass ihre polnischen Wurzeln fast niemandem mehr auffallen. Bekommt Emilias Mutter Besuch von Kolleg*innen, kocht sie keineswegs Bigos oder Piroggen. Vielmehr sucht sie in der “Brigitte” nach Trendgerichten.

Disziplin zahlt sich finanziell aus!

Die Disziplin von Emilias Eltern zahlt sich finanziell aus. Durch ihr doppeltes Ärztegehalt können sie sich innerhalb von wenigen Jahren ein eignes Haus in Berlin leisten. Doch die Belastung ist enorm. In der Familie kommt es immer wieder zu Streiteren – vor allem wegen der Strenge, mit der sie ihre Töchter erziehen und gegen die Emilia rebelliert. Bereits mit 16 Jahren zieht sie aus, kämpft sich alleine durch die letzten Schuljahre und die Studienzeit.

Desintegration im Erwachsenenalter

Je älter sie wird, desto mehr spürt sie, dass sie mehr über ihre polnische Identität wissen möchte, dass sie diesen Teil zu lange unterdrückt hat. Sie reist an ihren Geburtsort, trifft sich in Berlin mit Menschen, die eine ähnliche Geschichte haben und spricht mit ihrer eignen Tochter auch in der Öffentlichkeit polnisch.

Was ist Heimat, fragt sich Emilia Smechowski gegen Ende ihres Buchs. Sie hält fest:

„Heimat ist, wo meine Zugehörigkeit nicht hinterfragt wird. Heimat, sagt der Soziologe Heinz Bude, verleiht so etwas wie innere Schwerkraft. Ich finde, das trifft es, Wenn ich in Polen bin, ist es, als liege in mir ein unsichtbares Gewicht, eine angenehme Bleikugel, die mich erdet. Und doch reiße ich mich jedes Mal los. Zurück bleibt das Gefühl des Suchens. Wird es jemals enden?“

Ein bereicherndes Lesevergnügen

“Wir Strebermigranten” lässt sich wunderbar lesen – auch wegen der sehr klaren, eingänglichen und bildhaften Sprache von Emilia Smechowski. Durch den Mix aus Anekdoten und Fakten schafft sie es außerdem, dass es nie anstrengend wird, aber trotzdem immer interessant bleibt. Ich habe das Buch innerhalb nur weniger Tage gelesen, weil mich die Neugierde immer wieder danach greifen ließ.

Mir wurde dabei klar, wie viele polnische Menschen ich kenne – ohne dass ich mir bislang Gedanken darüber gemacht habe. Erst jetzt fragte ich mich, wie es für sie eigentlich war, nach Deutschland zu kommen. Wie die Smechowskis haben sie sich so gut integriert, dass ihre Vergangenheit nahezu unsichtbar wurde.

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Hallo, ich bin Miriam

Stets bin ich auf der Reise: durch Karlsruhe, die Kultur und die Welt. Dabei begegnen mir immer wieder interessante Menschen, Bücher, Filme und anderer Krimskrams. Damit all diese Erfahrungen und Eindrücke nicht einsam in meinem Kopf schwirren, gibt es diesen Blog. Aus Grau wird Kunterbunt.

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