Buchkritik: “Marzahn mon Amour. Geschichten einer Fußpflegerin“ von Katja Oskamp
“Marzahn mon Amour. Geschichten einer Fußpflegerin“: liebevolle Porträts aus dem Plattenbau
Kurz nach ihrem 45. Geburtstag packt Autorin Katja Oskamp ihren Rollkoffer, wirft ein Spannbettlaken, Schuhe und Kleidungsstücke hinein, dann zieht sie los – von Friedrichshain nach Charlottenburg, wo ihre Fortbildung zur Fußpflegerin startet.
Katja Oskamp ist zu diesem Zeitpunkt frustriert, ihr Kind braucht sie kaum noch, ihr Mann ist krank und 20 Verlage lehnten ihre neueste Novelle ab. Sie möchte etwas Neues ausprobieren – auch wenn ihr Umfeld darauf mit Unverständnis reagiert.
Von der Schriftstellerin zur Fußpflegerin – ein fulminanter Absturz. Mir fiel wieder ein, wie sie mir auf die Nerven gegangen waren mit ihren Köpfen, Gesichtern und gut gemeinten Ratschlägen.
Quelle: „Marzahn mon Amour. Geschichten einer Fußpflegerin“
Doch die Entscheidung entpuppt sich als richtig. Katja Oskamp macht ihre neue Arbeit gerne, lernt in einer Praxis in Berlin-Marzahn viele verschiedene Menschen kennen, die sie zu einem neuen Buch inspirieren: zu „Marzahn mon Amour. Geschichten einer Fußpflegerin“. Darin vereint sie eine illustre Auswahl von kurzen Porträts über ihre Kund*innen. Das ist manchmal lustig, manchmal traurig, aber immer unterhaltsam.
Humorvoll und voller Respekt
Die kompakten Kurzgeschichten in „Marzahn mon Amour. Geschichten einer Fußpflegerin“ leben vor allem von der genauen Beobachtungsgabe Katja Oskamps. Es gelingt ihr, auf jeweils wenigen Seiten die Besonderheiten der Menschen zu vermitteln. Dabei wahrt sie immer Respekt, egal wie speziell die Kund*innen sind. Ihre Sprache ist zugänglich und auf den Punkt.
Es sind vor allem ältere Menschen, die zu Katja Oskamp kommen – meist auch aus dem Stadtteil Marzahn. Oft haben sie eine DDR-Vergangenheit hinter sich, sind vom Leben gezeichnet und leben ohne Luxus in den Plattenbauten. Typisch für fast alle ist die Berliner Schnauze, Sentimentalitäten sind selten.
Ein skurriler Neukunde von Katja Oskamp ist zum Beispiel Herr Hübner.
Um fünfzehn Uhr stand Herr Hübner vor der Tür, ein aus dem Leim gegangener Endfünfziger in grauem Kapuzenschlabberpulli und ebenso grauen ausgebeulten Jogginghosen. (…) Neben ihm stand seine Frau, eine korpulente Person in schwarzen Gewändern und mit einer zerzausten, leuchtrotgefärbten Langhaarfrisur. Auf der anderen Seite von Herrn Hübner stand ein junges Mädchen, dünn, bleich, plattgesichtig, ein unscheinbares Wesen, dem einzig die mit schwarzem Kajalstift umrandeten Augen Kontur verliehen.
Quelle: „Marzahn mon Amour. Geschichten einer Fußpflegerin“
Doch der erste Eindruck täuscht. Es sind keineswegs Frau und Tochter, die ihn begleiten, sondern zwei Sozialarbeiterinnen. Denn die Füße von Herrn Hübner sind in einem desolaten Zustand. Er scheint sich seit Ewigkeiten nicht mehr um seine Körperhygiene gekümmert zu haben. Auf seinem Balkon stapelte sich außerdem der Müll so hoch, dass Nachbar*innen die Polizei riefen.
Die Sozialarbeiterinnen sorgen nun dafür, dass er den Termin in der Praxis auch tatsächlich wahrnimmt und nicht davonläuft. Herr Hübner hat ihnen als Dank einen Kuchen gebacken – ob die beiden Damen davon aber probieren werden, ist mehr als fraglich.
Bewegende Biografien
Weniger kurios, sondern vielmehr berührend ist dagegen die Geschichte von Gerlinde Bonkat. Sie floh im Januar 1945 mit ihrer Mutter und ihrem Bruder aus Ostpreußen in Richtung Westen. Oft hatten sie nichts zu essen, um sie herum starben viele Menschen, ihren Vater sahen sie nie wieder. Gerlinde Bonkat hat sich ihr Leben lang durchgeschlagen. Erst arbeitete sie in der DDR als Sekretärin, dann erfüllte sie sich ihren Traum, als Krankenschwester Menschen zu helfen.
Da nach 20 Jahren aber ihre Füße versagten, kehrte sie an den Büro-Schreibtisch zurück. Immer noch beklagte sie sich nicht. Die Wende machte es ihr dann aber schwer, sie bekam die Ignoranz und Arroganz ihrer neuen Kolleg*innen zu spüren. Gerlinde Bonkat resignierte. Nur einige Jahre später ging sie erschöpft in den Ruhestand.
Ich verneige mich vor der Lebensleistung von Gerlinde Bonkat, weil es sonst niemand tut. Sie hat jede Chance ergriffen, um den verpfuschten Start ins Leben auszugleichen. Sie hat nie einem Staat auf der Tasche gelegen und verteidigt ihre Selbstständigkeit bis zum heutigen Tag. Sie ist ein Flüchtling, der in der aktuellen Statistik nicht vorkommt und der in seinem Leben sehr wenige Schuhe besessen hat.
Quelle: „Marzahn mon Amour. Geschichten einer Fußpflegerin“
Unaufgeregt zu lesen
„Marzahn mon Amour. Geschichten einer Fußpflegerin“ ist ein leises, unaufgeregtes Buch, das Menschen ein würdevolles Gesicht verleiht, die sonst gar nicht sichtbar sind oder im Trash-TV vorgeführt werden. Da es nur 140 Seiten hat und die einzelnen Kapitel in sich abgeschlossen sind, ist es auch sehr leicht zu lesen.
Wer also ein schönes und unkompliziertes Buch sucht, ist bei „Marzahn mon Amour. Geschichten einer Fußpflegerin“ genau richtig.
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Das hab ich auch gern gelesen! Gutes Buch!