Buchkritik: “Der größere Teil der Welt” von Jennifer Egan
“Der größere Teil der Welt”: Eine wilde Reise durch Zeit & Raum
Als ich anfing, „Der größere Teil der Welt“ zu lesen, ahnte ich nicht, auf welch wilde Reise mich die Autorin Jennifer Egan mitnehmen würde. Innerhalb weniger Tage flog ich von den 1970er-Jahren in die Zukunft, von San Francisco nach Neapel und dann in die Wüste. Meine Reiseführer*innen: Bernie Salazar, ein Musikproduzent sowie Ex-Punk, und Sasha, seine adrette Assistentin mit kleptomanischen Zwängen.
13 kurzweilige Geschichten
„Der größere Teil der Welt“ ist dynamisch und alles andere als gewöhnlich. 13 verschiedene Geschichten auf fast 400 Seiten: Jennifer Egan hat ein schillerndes Kaleidoskop geschaffen, das zu Recht mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnet wurde. Ein ehemaliges Filmsternchen trifft auf einen völkermordenden Diktator, ein junger Mann begeht im Drogenrausch Selbstmord, ein Onkel sucht seine verschwundene Nichte. Das ist spannend und ein illustrer Querschnitt durch die kleinen und großen Dinge, die in der Welt passieren.
Ohne Umschweife hinein ins Geschehen
Der Roman beginnt direkt mit einem von Sashas diebischen Ausflügen in die Damentoilette eines Hotels, wo ihr Date an der Bar auf sie wartet. Es ist ein Mann, den sie über eine Online-Plattform kennengelernt hat. Jennifer Egan schreibt klar, schnörkellos und zaubert mit ihren Worten immer wieder die schönsten Bilder:
„Sie hatte die Brieftasche gesehen, zart und überreif wie ein Pfirsich. Sie hatte sie aus der Handtasche der Frau gepflückt und in ihre eigene kleine Handtasche fallen lassen…“
“Der größere Teil der Welt”
Sasha ist zu diesem Zeitpunkt Single, attraktiv und wegen ihrer kleptomanischen Zwänge in psychologischer Behandlung. Sie wird in den folgenden zwölf Geschichten mal jünger, mal älter. Denn die Ereignisse in „Der größte Teil der Welt“ verlaufen keineswegs chronologisch, vielmehr geht es kreuz und quer von Musikstudios in den USA über Löwensafaris in Afrika bis hin zu verfallenen Häusern in Italien.
Wie ein Konzeptalbum!
Der Roman ist wie ein Konzeptalbum angelegt. Jennifer Egan verwendet die unterschiedlichsten Stilmittel, setzt Fußnoten ein, erzählt ein Kapitel anhand einer Powerpoint-Präsentation, lässt Grafiken und Pfeile einfließen und einen ihrer jüngsten Protagonisten die Pausen in Popsongs stoppen. Das ist ungewöhnlich, überraschend und hat mich beim Lesen immer wieder zum Staunen gebracht.
Von der Hippie-Ära über die New-Wave-Bewegung bis hin zum Internetzeitalter mit seinen neuesten technischen Errungenschaften: Auch die Geschichten sind wie ein buntes Mosaik. Neue Figuren tauchen auf, alte verändern sich, aber am Ende sind alle irgendwie miteinander verbunden.
Neben Sasha steht immer wieder ihr Chef Bernie Salazar im Mittelpunkt der Geschichten. Er ist ein egozentrischer Mann. Er sprüht sich Insektenspray unter die Achseln, in seinen Kaffee mischt er Goldflocken, die er in einer emaillierten Dose aufbewahrt. Es ist für ihn ein Mittel zur Steigerung seiner sexuellen Potenz.
Klug & interessant
„Der größere Teil der Welt“ ist ein besonderer Roman. Nicht, weil er überdurchschnittlich spannend oder emotional ist, sondern einfach wegen seiner Intelligenz und der ganzen Kreativität, die in ihm steckt. Die Zeit- und Raumwechsel, die verschiedenen Stilmittel – Jennifer Egan schafft es, ungewöhnlich zu sein, ohne dabei anstrengend zu wirken.
Interessant ist vor allem die Bandbreite der sozialen und kulturellen Themen, die sie aufgreift: von der Musik über die menschlichen Irrungen und Wirrungen bis hin zu den Prognosen, die sie bereits im Jahr 2011 für die Zukunft bereithält (Smart Pads, mit denen drei Monate alte Babys ihre Lieblingssongs kaufen können). „Der größere Teil der Welt“ ist Unterhaltung auf höchstem Niveau, ein Lesevergnügen, das mich tief beeindruckt hat.
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