Krimskrams: “Ein Abend mit Irma Chacall”
Irma Chacall: Eine Künstlerin, die Sprache und Fotografie verbindet
Es gibt eine Frau, die Irma Chacall in ihrem Denken, Handeln und bei ihren künstlerischen Arbeiten besonders prägt: Simone de Beauvoir. Von der französischen Philosophin, die mit Jean-Paul Satre und Albert Camus zu den Hauptvertretern des Existentialismus gehört, hat die in Karlsruhe lebende Künstlerin jedes Werk gelesen. Von de Beauvoirs feministischen Ansichten ließ sie sich ebenso inspirieren, wie vom Stil sich zu kleiden.
Irma trägt Schwarz, als wir uns in ihrem Atelier in der Viktoriastraße 12 (V12) treffen. Ihre rotgefärbten Locken tanzen auf dem Kragen ihres Rollkragens, wenn sie beim Sprechen den Kopf bewegt. An den Wänden sind ihre Arbeiten zu sehen: Schwarz-Weiß-Fotografien mit intimen Nahaufnahmen von menschlichen Körpern, reduzierte Zeichnungen von Frauen, Aquarelle und einzelne gerahmte Buchseiten, bei denen sie mit verschiedenen Farben und Formen die meisten Wörter durchgestrichen hat. Übrig geblieben ist ein bedeutungsschwangerer Satz, der losgelöst vom Kontext ist. Text-Cancelling nennt sie dieses Projekt.
Sprachblockade brachte sie zur Fotografie
Eigentlich war Irma 2011 auf dem Weg nach Berlin, als sie in Karlsruhe zwischenstoppte, erst kurz und schließlich länger blieb, bis heute. „Ich habe damals in Bergamo Literaturwissenschaften und Philosophie studiert“, erzählt sie mir. In der Fächerstadt schrieb sie ihre Magisterarbeit und zog mit ihrer analogen Kamera los.
„Die Fotografie war zeitweise meine einzige Möglichkeit, um mich auszudrücken“, erklärt sie mir, während sie an ihrem Bier nippt. Durch die intensive Beschäftigung mit der Philosophie hatte sie vorübergehend ihre Sprache verloren, konnte Gefühle nicht mehr verbalisieren. „Ein Freund aus Florenz drückte mir deshalb eine Kiev-Kamera in die Hand.“ Dadurch hatte sie wieder eine Möglichkeit, um zu zeigen, was sie in der Welt bewegt, was sie berührt.
Irmas Fotografien sind intim, roh und nah. Sie will das Wesen ihrer Motive erfassen, ungefiltert, ehrlich. Auch hier lässt sich sich vom Existentialismus und der Psychoanalyse inspirieren.
Ihre Sprache fand sie nach einiger Zeit wieder, die Fotografie aber blieb. Beide Ausdrucksformen spielen nun eine Rolle bei ihren künstlerischen Arbeiten: Auf Ausstellungen zeigt sie ihre Fotografien. In dem selbst gegründeten Lesekreis „Symphilosophie“ beschäftigt sie sich mittels der Sprache mit den grundlegenden Fragen des Lebens.
Lesekreis „Symphilosophie“ gegründet
„Ich habe vor mehr als fünf Jahren in meiner damaligen WG begonnen, die Bücher von verschiedenen Autor*innen zu besprechen“, erklärt sie mir die Ursprünge des Lesekreises. Darunter Werke von Friedrich Nietzsche, Arthur Schopenhauer und Hannah Arendt. Nach einem Jahr war das Interesse daran so groß, dass sie beschloss, dieses Format als öffentliche Veranstaltung anzubieten.
“Symphilosophie“ findet nun in regelmäßigen Abständen statt. Zunächst im Raum des interdisziplinären Vereins „Die Anstoß“, im „ßpace“, nun aber im Atelierhaus V12, wo sie auch arbeitet. „Wir sind meistens zwischen acht bis fünfzehn Personen – und offen für weitere Interessierte“, betont die Karlsruher Künstlerin.
Unterschiedliche Perspektiven kommen zusammen
„Da Menschen aus unterschiedlichen Lebenswelten im Lesekreis sind, kommen entsprechend auch verschiedene Ansichten zusammen“, erzählt sie. Das macht es lebendig und inspirierend. Ein Maschinenbau-Studierender hat beispielsweise oft einen anderen Zugang zu den Werken, als jemand der Literaturwissenschaften, Germanistik oder Philosophie studiert hat.
Welche Werke gelesen werden, bestimmen die Anwesenden gemeinsam. Basis ist eine umfangreiche Liste, die Irma erstellt hat und die von allen ergänzt werden kann. Zuletzt standen unter anderem „Also sprach Zarathustra“ von Friedrich Nietzsche und „Die Tücke des Subjekts“ von Slavoj Žižek auf dem Plan.
Umfangreiches Wissen
Was mir schnell beim Gespräch mit Irma auffällt: Ihr Spektrum an Wissen ist riesig. Feminismus, Rassismus, soziale Ungleichheit. Die Künstlerin kann mir spielend leicht verschiedene Theorien dazu erläutern, unterschiedliche Perspektiven dazu einnehmen. „Ich lese in jeder freien Sekunde“, sagt sie, als ich sie darauf anspreche. Die Einsamkeit ist für sie deshalb keine Feindin, sondern eine angenehme Begleiterin.
Gleichwohl: Die Corona-Pandemie war auch für Irma eine schwierige Zeit. Der Lesekreis fand nur noch online statt und es war nahezu unmöglich, intime Fotos von anderen Menschen zu machen. Nun, da sich alles wieder in Richtung Normalität bewegt, kommt auch bei Irma die Energie zurück.
Angekommen in Karlsruhe
Obwohl Karlsruhe nur als Zwischenstopp gedacht war, ist sie angekommen. „Ich habe hier tolle Begegnungen, finde für all meine Bedürfnisse passende Angebote oder kann selbst welche gestalten, wenn ich etwas vermisse – mehr muss es doch gar nicht sein“, sagt Irma abschließend mit einem herzlichen Lachen, während ihre roten Locken auf und ab hüpfen.
Infos zu Irma Chacall und Symphilosophie
Auf Instagram und Facebook gibt es immer die aktuellsten Infos zu den Treffen von Symphilosophie.
Auf der Webseite von Irma mehr zu ihren einzelnen Projekten.
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This girl is on fire!
“Die Mandarins von Karlsruhe” würde de Beauvoir sagen.
Hut ab für diesen so schönen Menschen!
Ihre Fotografien zu betrachten ist beinahe eine eigene körperliche Empfindung, Das feine Gespür mit dem sie Menschen fängt, ist verblüffend.