16. September 2021

Schmöker: „Das Nest“ von Cynthia D’Aprix Sweeney

„Das Nest“ von Cynthia D'Aprix Sweeney

Kritik „Das Nest“ von Cynthia D’Aprix Sweeney: Verdirbt Erben den Charakter?

Es war solch eine beruhigende Aussicht: Mehrere Hunderttausend Dollar sollten die vier Geschwister Melody, Jack, Beatrice und Leo erben – an Melodys 40. Geburtstag. Es sind nur noch wenige Monate, bis endlich das Geld aus dem „Nest“ fließt. Doch Lebemann Leo macht ihnen allen einen Strich durch die Rechnung.

Auf einer Hochzeit bandelt er betrunken und zugekokst mit der 19-jährigen Bedienung Matilda an, schleppt sie in seinen Flitzer, baut einen Unfall – und muss daraufhin eine immense Summe Schmerzensgeld an Matilda bezahlen.

Da Leo soviel Geld selbst nicht hat, öffnet die Mutter heimlich das „Nest“ und gibt ihrem ältesten Sohn einen großen Teil davon. Der Aufschrei in der restlichen Familie ist groß, als es ans Licht kommt. Geplante Projekte stehen auf der Kippe, Lebensentwürfe geraten durcheinander, die vier Geschwister stehen vor ganz neuen Herausforderungen.

Kurzweilig und spannend

Cynthia D’Aprix Sweeney hat mit „Das Nest“ einen perfekten Unterhaltungsroman geschrieben. Die Geschichte ist kurzweilig, spannend und mit vielseitigen Charakteren. Außerdem behandelt sie eine Frage, die in unserer modernen Gesellschaft eine bedeutende Rolle spielt: Was macht es mit Menschen, wenn sie sich auf ein Erbe verlassen können? Ist es eine wohltuende Sicherheit oder macht es sie auch kaputt?

Die vier Geschwister hatten das Geld im Kopf bereits ganz unterschiedlich verplant. Cynthia D’Aprix Sweeney erzählt nun abwechselnd in „Das Nest“ aus deren Leben – mal mit Ironie, mal mit Ernsthaftigkeit, aber nie mit Schwere. Dynamik entsteht, da sich Rückblenden mit aktuellen Ereignissen vermischen. Die Basis ist stets New York.

Vier Geschwister, vier Lebensentwürfe

Melody, die jüngste der Geschwister, lebt mit ihrem Mann und ihren Zwillingstöchtern in der Vorstadt in einem Haus, dessen Hypothek schwer auf ihnen lastet. Sie ist eine verzweifelte Hausfrau, spioniert ihren Teenager-Töchtern mit einer App hinterher und möchte für sie die besten Colleges. Für sie wäre es ein Drama, wenn „Das Nest“ nun futsch wäre.

Kein Andrang im Antiquitätenladen

Auch Jack benötigt das Geld dringend. Er hat einen Antiquitätenladen, der gerade schleppend läuft. Seinem Ehemann hat er davon aber nichts verraten, sondern stattdessen das gemeinsame Ferienhaus mit einer Hypothek belegt. Bekäme er das Erbe nun nicht, droht ihm ein riesiger Ehekrach.

Jack reagiert deshalb ebenfalls panisch, als er erfährt, dass Leo das Schmerzensgeld vom gemeinsamen Erbe abgezweigt hat.

Schriftstellerin mit Schreibblockade

Ein wenig gelassener ist Beatrice. Sie ist Schriftstellerin mit Schreibblockade. Ihr großer Erfolg liegt bereits Jahre zurück. Allein wohnt sie in einer Wohnung mitten in New York und kämpft sich durch das Leben. Eigentlich wollte sie mit dem Erbe ihr Apartment vergrößern. Daraus wird nun erst mal nichts.

Das größte Problem, das Beatrice hat, lässt sich durch Geld aber auch nicht lösen: Sie braucht eine gute Idee für einen neuen Roman.

Lebemann Leo

Und dann ist da noch das chaotische Leben von Leo. Lange Zeit gehörte er fest zur glitzernden New Yorker High Society. Der Grund dafür: In jüngeren Jahren hatte er erfolgreich ein Online-Magazin aufgebaut und es profitabel verkauft. Mit dem Geld genoss er danach das Leben – schöne Ehefrau, Drogen und Alkohol inklusive.

Das Problem: Mit der Zeit wurde das Geld immer weniger und seine Ehe brüchiger. Die Katastrophe mit Matilda dient nun als Brandbeschleuniger. Leo steht vor dem Nichts.

Schöne Botschaft am Ende

Vier Geschwister, vier ganz unterschiedliche Leben und Herausforderungen. Cynthia D’Aprix Sweeney präsentiert auf diese Weise die Vielfalt an alltäglichen Problemen. Langweilig wird es dadurch nie. Vielmehr zog mich eine leichte, angenehme Spannung von Seite zu Seite. Wird Leo seinen Geschwistern das Geld zurückgeben können?

Was sich schnell zeigt: Die vermeintliche Katastrophe ist auch eine Chance für die Geschwister – für ernste Gespräche, für mehr Kontakt und Austausch. Mit der Zeit setzen sie sich mit der Frage auseinander: Was benötige ich wirklich, um glücklich zu sein. Jede der Figuren findet darauf eine ganz eigene Antwort, überwindet Ängste und entwickelt sich weiter. Eine schöne Botschaft.

Für mich ist „Das Nest“ zwar mehr Unterhaltung, als anspruchsvolle Literatur. Aber auf jeden Fall ein Roman, den ich sehr gerne gelesen habe.

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Hallo, ich bin Miriam

Stets bin ich auf der Reise: durch Karlsruhe, die Kultur und die Welt. Dabei begegnen mir immer wieder interessante Menschen, Bücher, Filme und anderer Krimskrams. Damit all diese Erfahrungen und Eindrücke nicht einsam in meinem Kopf schwirren, gibt es diesen Blog. Aus Grau wird Kunterbunt.

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