29. Januar 2022

Buchkritik: “Die verschwindende Hälfte” von Brit Bennett

"Die verschwindende Hälfte" I Brit Bennett

„Die verschwindende Hälfte“: ein großer Roman über Rassismus und Liebe

Es ist der 14. August 1954, als die Schwarzen Zwillinge Stella und Desiree Vignes nach dem Stadtgründer-Fest spurlos aus Mallard verschwinden. 16 Jahre sind sie damals alt. Keiner im kleinen Südstaaten-Städtchen ahnt, wohin sie gegangen sind. Es herrscht große Aufregung. Vor allem für ihre Mutter, eine mittellose Witwe, ist es ein schwerer Schlag.

Das Besondere an Mallard: Es ist keine gewöhnliche Kleinstadt in Louisiana. Die Bewohner*innen werden von Generation zu Generation immer weißer.

„(…) wie eine Tasse Kaffee, die man immer weiter mit Sahne verdünnt. Immer perfektere Negroes. Eine Generation hellhäutiger als die andere.“

Vor allem Stella macht sich diese Eigenschaft zunutze. Sie gibt sich mit ihrem hellbraunen Teint als Weiße aus, heiratet einen reichen Mann und beginnt ein komplett neues Leben – mit all den Privilegien, die für sie als Schwarze Frau völlig unerreichbar gewesen wären. Ein Seitenwechsel, den Autorin Brit Bennett unglaublich spannend, gefühlvoll und mitreißend in „Die verschwindende Hälfte“ beschreibt.

Eine Lesetipp von Barack Obama

Barack Obama machte mich auf das Werk von Brit Bennett aufmerksam. Der Roman gehörte für ihn 2020 zu den Büchern, die ihn am meisten beeinflussten. Ein inspirierender Tipp. Vor allem von der Geschichte von Stella bin ich bis heute völlig gefesselt.

Mallard und die Geschichte um Stella und Desiree sind zwar fiktiv, stehen aber exemplarisch für mehrere Communitys in den USA, in denen Schwarze im 19. und 20. Jahrhundert nur hellhäutig heirateten, um immer weißere Kinder zu bekommen.

Die Geschichte zieht sich über mehrere Jahrzehnte

Brit Bennett erzählt die Geschichte von den Zwillingen und ihrer Familien über mehrere Jahrzehnte hinweg. Bereits auf den ersten Seiten verrät sie, was mit den jungen Frauen nach deren Verschwinden passierte.

„(…) die Zwillinge tauchten bald in New Orleans wieder auf, einfach selbstsüchtige Mädchen, die sich von der Verantwortung davongestohlen hatten. Sie würden nicht lange fortbleiben. Das Stadtleben würde sie mürbe machen. Das Geld würde ihnen ausgehen und auch die Unverfrorenheit, und bald würden sie der Mutter wieder schniefend am Rock hängen. Aber sie kamen nicht zurück. (…) Stella wurde weiß, und Desiree heiratete den dunkelsten Mann, den sie finden konnte.“

Im ersten Teil des Buches steht vor allem Desiree im Fokus. Sie kommt nach einigen Jahren abgebrannt mit ihrer Tochter Jude zurück nach Mallard. Sie ist vor ihrem gewalttätigen Ehemann geflohen und sucht Zuflucht bei ihrer Mutter.

Das Problem: Die kleine Jude ist tiefschwarz, was in Mallard für große Irritationen sorgt. Sie wird deshalb von ihren Mitschüler*innen ständig gehänselt.

„Teerbaby hatten sie sie genannt.

Mitternachtskind. Darky. Matschkuchen. Lach mal, hatten sie gesagt, wir sehen dich nicht. Du bist so schwarz, hatten sie gesagt, du verschwimmst mit der Tafel.“

Jude hat Glück, dass sie sportlich ist und ein Stipendium bekommt, mit dem sie Mallard in Richtung Kalifornien verlassen kann. Dort lernt sie Reese kennen, einen transsexuellen Mann, in den sie sich verliebt.

Auch auf der Sonnenseite gibt es Probleme

In Kalifornien lebt auch Stella, um die es sich vor allem ab dem zweiten Teil dreht. Sie ist nicht die erste Person aus Mallard, die sich dazu entscheidet, sich als Weiße auszugeben.

„In Mallard hörte man schon als Kind Geschichten von Leuten, die so taten, als wären sie weiß.Von Warren Fontenot, der im Zug ein Weißenabteil nahm und den misstrauischen Schaffner mit genug Französisch überzeugte, er sei ein Europäer mit dunklem Teint (…) Immer wieder die Seiten zu wechseln, von einem Augenblick auf den anderen, war lustig. Plötzlich als weiß durchzugehen, von einem Moment auf den anderen, war ein Spaß. Heldenhaft gar. Wer wollte den Weißen nicht zur Abwechslung mal eins auswischen.“

Auch wenn Stella in ihrem neuen glamourösen Leben scheinbar auf der Sonnenseite steht, macht ihr der Identitätswechsel schwer zu schaffen und bringt sie moralisch immer wieder in schwierige Situationen.

Wunderbarer Schreibstil

Brit Bennett zeigt anhand der Zwillinge auf, wie ein Leben, das mit den gleichen Rahmenbedingungen startet, in komplett unterschiedliche Richtungen gehen kann, wenn die Hautfarbe eine andere ist. Allein dieser Kniff macht für mich das Buch so lesenswert.

Brit Bennett schreibt außerdem wunderbar flüssig und angenehm, ihre Charaktere sind vielschichtig und es ist spannend, wie sie Rassismus in den verschiedensten Facetten in die Geschichte einfließen lässt – vom Mord des Vaters der Zwillinge über das Mobbing von Jude bis hin zu Stella, die sich so unsicher in ihrem Leben als weiße Frau fühlt und keinen natürlichen Umgang mehr mit Schwarzen Menschen finden kann.

Identität, Rassismus, Geschlecht. „Die verschwindende Hälfte“ ist ein Roman, der die aktuellen Themen unserer Zeit aufgreift und zum Nachdenken anregt. Dazu ist er noch unterhaltsam und trotz der Fülle an schweren Themen sehr leicht zu lesen. Eine äußerst gelungene Kombination!

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Stets bin ich auf der Reise: durch Karlsruhe, die Kultur und die Welt. Dabei begegnen mir immer wieder interessante Menschen, Bücher, Filme und anderer Krimskrams. Damit all diese Erfahrungen und Eindrücke nicht einsam in meinem Kopf schwirren, gibt es diesen Blog. Aus Grau wird Kunterbunt.

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