29. Mai 2022

Buchkritik: “Blauwal der Erinnerung” von Tanja Maljartschuk

"Blauwal der Erinnerung" von Tanja Maljartschuk

“Blauwal der Erinnerung”: Über einen ukrainischen Volkshelden und eine Frau mit Panikattacken

Als sie unberechenbare Panikattacken überfallen, ihr das Herz bis in die Kehle drängt, Wörter an Bedeutung verlieren und der Gang aus dem Haus zu einer riesigen Überwindung wird, findet die namenlose Ich-Erzählerin zu Wjatscheslaw Lypynskyj.

In einer alten ukrainischen Tageszeitung entdeckt sie eine Todesanzeige des ukrainischen Volkshelden. Im Juni 1931 ist der Politiker und Historiker gestorben. Wer ist dieser Mann, der Anfang des 20. Jahrhunderts für die Geschichte der Ukraine eine wichtige Rolle spielt, aber danach nahezu in Vergessenheit gerät?

Um selbst wieder Halt im Leben zu finden, beginnt die junge Frau seine Geschichte zu recherchieren – und beschäftigt sich dadurch auch mit sich und der Vergangenheit ihrer eigenen Familie.

Was passierte in der Ukraine zu Beginn des 20. Jahrhunderts?

Von „Blauwal der Erinnerung“ hörte ich zum ersten Mal in dem „Zeit“-Podcast „Servus, Grüezi und Hallo“. Vor einigen Wochen stellten die drei Journalisten in einer Folge Literatur mit Ukraine-Bezug vor. Der Roman von Tanja Maljartschuk hörte sich besonders interessant an. Vor allem da ich über die Geschichte der Ukraine zu Beginn des 20. Jahrhunderts bislang nur wenig wusste. Das hat sich nun grundlegend verändert.

In „Blauwal der Erinnerung“ stehen die zwei Perspektiven der Ich-Erzählerin und des Volkshelden im Fokus. Die Protagonistin arbeitet nach dem Studium als Autorin, hat drei gescheiterte Beziehungen hinter sich, kämpft mit Angstzuständen, depressiven Verstimmungen und beschäftigt sich intensiv mit den existenziellen Fragen des Lebens – vor allem mit der Zeit.

„Und in einem dieser Augenblicke, als mich eine tiefe Leere quälte, begann ich plötzlich über die Zeit nachzudenken wie über etwas, das eine Kette sinnloser Ereignisse miteinander verbindet, und darüber, dass der Sinn nur in der Aufeinanderfolge dieser Ereignisse liegt und dass weder Gott noch die Liebe noch die Schönheit noch die Größe des Verstandes unsere Welt bestimmten, sondern allein die Zeit, der Lauf der Zeit und das Vergehen des menschlichen Lebens in ihr.

Das menschliche Leben ist ihre Nahrung. Sie verschlingt Millionen Tonnen davon, zerkaut und zermalmt sie zu einer gleichmäßigen Masse wie ein gigantischer Blauwal das mikroskopisch kleine Plankton – ein Leben verschwindet spurlos, um einem anderen, dem nächsten in der Kette, eine Chance zu geben.

Zerrissen zwischen Polen und Russland

Ein Leben, das bereits zu Ende ging, ist das von Wjatscheslaw Lypynskyj. Er litt an Tuberkulose und verbrachte die letzten Jahre vor seinem Tod sehr abgeschieden. Sein unermüdlicher Einsatz für die staatliche Unabhängigkeit der Ukraine hatte ihm nicht nur das Eheleben zur Hölle gemacht, sondern ihm auch immer wieder große persönliche Enttäuschungen mit Weggefährten eingebracht. Am Ende seines Lebens kommuniziert er fast nur noch schriftlich.

Die Ukraine ist zurzeit vor dem Ersten Weltkrieg keine eigenständige Nation, sondern zwischen Polen und Russland zerrissen.

„Folklore und die Liebe zu Alltagsantiquitäten waren das Einzige, dessen sich das Ukrainertum des Jahres 1903 rühmen konnten. Aufgeteilt zwischen zwei Großmächten erinnerte es immer mehr an eine mit Staub überzogene Dekoration, die keiner brauchte.“

Aus Waclaw wird Wjatscheslaw

Wjatscheslaw Lypynskyj stammt aus einer polnischen Adelsfamilie. Seine Liebe zur Ukraine ist keineswegs selbstverständlich, im Gegenteil. Wenn Familien wie die seine damals im Alltag ukrainisch sprachen, konnten sie ihre Privilegen verlieren.

Lypynskyj wünscht sich eine konstitutionelle Monarchie für die Ukraine. Seine Zuneigung ist so groß, dass er mit 19 Jahren zum Entsetzen seiner Familie verkündet, dass sein polnischer Vorname Waclaw von nun an ukrainisch Wjatscheslaw ausgesprochen werden soll.

„Der Vater erstickte fast an einem Kotelett. Der Mutter entfuhr ein Schrei. Die Brüder und die Schwester warfen einander stumme Blicke zu. Lypynskyj sprach überdies ukrainisch, und diese Sprache (dieser dörfliche Dialekt, denn die Mischung aus Polnisch und Russisch war doch keine Sprache) hatte die Familie Lipinski noch nie aus dem Mund eines gebildeten Menschen gehört, immer nur von der armen Landbevölkerung.“

Großes Chaos nach 1918

In Krakau beginnt Lypynskyj nach dem Abitur ein Agronomie-Studium und besucht dazu noch Vorlesungen der ukrainischen Sprache. Nach und nach lernt er Menschen kennen, die mit ihm das Anliegen teilen und sich für die Unabhängigkeit einsetzen. Jedoch kommt es immer wieder zu Streitereien und Zerwürfnissen.

1918 wird die Unabhängigkeit der Ukraine ausgerufen. Die konstitutionelle Monarchie ist endlich da. Lypynskyj wird zum Gesandten des Ukrainischen Staates in der Österreichisch-Ungarischen Monarchie. Doch die konstitutionelle Monarchie hält sich kaum ein Jahr. An ihre Stelle tritt die ukrainische Anarchie. Das Chaos ist groß. Der Machtwechsel beschert Lypynskyj ein Geschwür am Hals. Es ist eine große Niederlage für ihn. Danach verbringt er seine Zeit in Wien, Berlin, Gutenbrunn (Baden) oder in der Steiermark.

Atmen!

Einatmen. Ausatmen. Sowohl für die Protagonistin als auch Lypynskyj ist es nicht selbstverständlich, Luft zu bekommen. Während die junge Frau aus psychischen Gründen immer wieder von Panikattacken überfallen wird, hat der Volksheld Probleme mit der Lunge, die ihn zu Auszeiten zwingen – unter anderem zu Luftkuren und Besuchen in Sanatorien.

Meistens wechseln mit den Kapiteln auch die Perspektiven. Die Ich-Erzählerin lässt nach und nach einen Blick in ihre Vergangenheit zu. Sie erzählt von ihren Männer-Beziehungen, von ihrer starken Oma Sonja, die als Kind ihre Mutter verloren und von ihrem Vater danach zu einem Waisenhaus gebracht wurde. Oder von ihrem Opa Bimmler, der nicht im Zweiten Weltkrieg kämpfen wollte, dafür aber aus Glocken Waffen schmelzen musste.

Mit den Erzählungen über ihre Großeltern und Eltern schließt die Ich-Erzählerin die historischen Lücken, die eigentlich nach dem Tod von Lypynskyj im Jahr 1931 bis zu ihrer Geschichte entstehen würden. Sie vermittelt dadurch ein Bild vom Leben der Menschen ab 1932 und zeigt, wie sich Traumata über Generationen weitergeben.

„Ich bin eine Nachfahrin von Unterordnung und Angst vor dem Tod.“

Viele Stärken, einige Schwächen

Tanja Maljartschuk hat mit „Blauwal der Erinnerung“ einen poetischen Roman geschaffen. Immer wieder arbeitet sie mit Bildern wie die des Blauwals oder mit philosophischen Vergleichen.

Außerdem hat mir der Roman ein besseres Gefühl für die Geschichte der Ukraine vermittelt. Auch wenn es kein historisches Sachbuch ist, ermöglicht er spannende Einblicke und macht noch nachvollziehbarer, warum die Menschen nun alles dafür geben, ihre Unabhängigkeit zu erhalten.

Was ich jedoch ein wenig schwierig finde, ist die Phase nach 1918 im Buch. Wie im Zeitraffer werden auf wenigen Seiten im letzten Drittel die gravierenden Umstürze beschrieben. Viele mir unbekannte Namen fallen. Die Beschreibungen sind abstrakt. Da verlor ich definitiv den Faden.

Ich habe deshalb parallel dazu auf geschichtlichen Internetseiten die Ereignisse von damals nochmals nachgelesen. Das half mir für ein besseres Verständnis und auch dafür, bis zum Ende dran zu bleiben.

Kein Spannungseffekt

Dass beim Lesen leider kein Sogeffekt aufkommt, ist außerdem der Erzählweise von Tanja Maljartschuk geschuldet. Sie nimmt ihren Erzählungen komplett die Spannung, indem sie immer wieder verrät, wie sich Geschichten entwickeln. Schon beim Heiratsantrag von Lypynskyj sagt sie, dass die Ehe nicht gut enden wird. Dass die Ich-Erzählerin mit drei Männern Pech haben wird, ist ebenfalls früh klar sowie dass Lypynskyj im Jahr 1931 stirbt.

Dadurch entsteht nie ein Spannungseffekt beim Lesen. Das ist schade. Denn grundsätzlich ist „Blauwal der Erinnerung“ ein sehr schönes Buch, das interessante Aspekte über die Ukraine und den Kampf der Menschen für ein Leben in Freiheit bereithält.

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Hallo, ich bin Miriam

Stets bin ich auf der Reise: durch Karlsruhe, die Kultur und die Welt. Dabei begegnen mir immer wieder interessante Menschen, Bücher, Filme und anderer Krimskrams. Damit all diese Erfahrungen und Eindrücke nicht einsam in meinem Kopf schwirren, gibt es diesen Blog. Aus Grau wird Kunterbunt.

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