13. Februar 2022

Schmöker: “Ikigai” von Ken Mogi

"Ikigai" von Ken Mogi

Ken Mogi: „Ikigai. Die japanische Lebenskunst“ – ein inspirierendes Buch!

Als mein japanischer Mitbewohner und ich vor einiger Zeit mit unzähligen Kisten, Tüten und Möbeln in unsere gemeinsame Wohnung einzogen, waren elf Grünpflanzen dabei. Fünf von mir, sechs von ihm. Eine Grünlilie, ein Elefantenbaum, ein Bogenhanf und eine Orchidee unter anderem. Nichts Spektakuläres, ganz gewöhnliche Zimmerpflanzen.

Am Ende des Umzug-Wahnsinns schleppte mein Mitbewohner vorsichtig in einem Pappkarton kleine, mit Wasser gefüllte Becher in die Küche. Mit Zahnstochern durchbohrte Avocadokerne lagen oben auf den Plastikränden und berührten mit ihrer unteren Hälfte das Wasser. „Was ist das für ein Projekt?“, fragte ich ihn erstaunt. „Das werden Avocadobäume“, erklärte er mir optimistisch. Ich musste lachen, Avocadobäume züchten. Was für eine nette Idee!

In den nächsten Monaten widmete sich mein Mitbewohner mit der höchsten Akribie seinem Projekt. Las sich in Internetforen ein und begann zusätzlich von unseren anderen Zimmerpflanzen Setzlinge zu machen. Von Woche zu Woche wuchs die Zahl der Pflanzen in unserer Wohnung. Auf dem Balkon, im Arbeitszimmer, im Schlafzimmer. Überall wurde es grüner und grüner.

Mit alten Wollresten knüpfte er sogar Makramees, damit er einige Zimmerpflanzen direkt an die Fensterscheiben hängen konnte und sie somit besonderes viele Sonnenstrahlen abbekommen. Die Avocadokerne bekamen mit der Zeit Keime, wurden von meinem Mitbewohner in Erde eingetopft und wuchsen immer mehr.

Erstaunt war ich vor allem von der Hingabe und der Liebe zum Detail, die er den Pflanzen widmete. Ich lernte dabei so viel von ihm: Das Gießwasser muss Zimmertemperatur haben, darf bloß keinen Kalk enthalten und der Bogenhanf darf auch an die schattigen Plätze im Wohnzimmer. Aus einer kleinen Idee war eine große Leidenschaft geworden – ohne dass es ihm um ein bestimmtes Ziel ging.

Was ist ikigai?

Dass mir mein Mitbewohner die japanische Lebenskunst „ikigai“ damit in Perfektion vorlebte, ist mir erst vor wenigen Tagen klar geworden, als ich das gleichnamige Buch des Neurowissenschaftlers Ken Mogi zu lesen begann. Was genau ikigai ist, erklärt der Autor so:

„Ikigai ist ein japanischer Begriff, der die Freuden und den Sinn des Lebens beschreibt. Wörtlich übersetzt, besteht er aus „iki“ (leben) und „gai“ (Sinn). (…) das Wort kann sich auf kleine Alltagsdinge beziehen wie auf große Ziele und Erfolge.“

Ikigai dient als Universalmotor im Leben. Wer es gefunden hat, verspürt Freude, hat das Gefühl, sich aktiv ein Leben aufbauen zu können und schafft es häufig besser, mit Krisen umzugehen.

Die fünf Säulen von ikigai

Wie Ken Mogi weiter beschreibt, gibt es fünf Säulen, die typisch für ikigai sind:

  • Klein anfangen
  • Loslassen lernen
  • Harmonie und Nachhaltigkeit leben
  • Die Freude an kleinen Dingen entdecken
  • Im Hier und Jetzt sein

In seinem Buch erklärt Ken Mogi nun anhand verschiedener Lebensgeschichten wie Menschen in Japan ihr ikigai gefunden haben und dadurch glücklich wurden. Beispielsweise die von Jiro Ono, dem weltweit ältesten lebenden Drei-Sterne-Koch, dessen Sushi von einer quasi mystischen Aura umgeben ist.

Auch historische Aspekte führt der Autor an, um zu erklären, wie tief ikigai seit Jahrhunderten in der japanischen Kultur verankert ist und warum es mit ein Grund ist, dass die Menschen in Jahpan häufig sehr alt werden.

Flow-Zustand mit ikigai

Selbst sein ikigai zu finden, macht glücklich, weil es dadurch möglich ist, in den sogenannten Flow zu kommen – einen Geisteszustand, den der amerikanische Psychologe Mihály Csíkszentmihályi geprägt hat.

„Nach Csíkszentmihályi ist Flow ein Zustand, in dem Menschen so sehr in eine bestimmte Tätigkeit versunken sind, dass nichts anderes mehr zu zählen scheint. So findet man Freude an der Arbeit. Arbeit wird zum Selbstzweck statt zum widerstrebend erduldeten Mittel, um irgendetwas zu erreichen.“

Im Flow-Zustand kommt die Säule des „Im Hier und Jetzt sein“ zu tragen. Sie ist mit Achtsamkeit gleichzusetzen, die bei vielen Therapieansätzen und Coachings inzwischen eine Rolle spielt.

Mehr Resilienz mit ikigai

Ken Mogi erklärt auch wunderbar schlüssig, warum japanische Menschen häufig resilient und robust sind – und wie das ebenfalls mit ikigai zusammenhängt.

Ein Grund dafür: In Japan sind die Bewohner*innen ständig mit der Gefahr von Naturkatastrophen konfroniert. Erdbeben, Vulkanausbrüche. Niemand weiß, wann und ob es sie oder ihn trifft. Trotzdem resignieren die Japaner*innen nicht und machen weiter.

Soziale Normen, Moralvorstellungen und enge Beziehungen mit anderen Menschen spielen deshalb eine große Rolle. Schon Kinder lernen durch Mangas, dass Freundschaft, Kampf und Sieg wichtige Grundpfeiler des Lebens sind. Wenn es im Leben irgendwann zu Problemen kommt, sind sie vorbereitet.

Neue Perspektiven für das eigene Leben

Mir hat es unglaublich gutgetan, das Buch von Ken Mogi zu lesen. Es ist sehr einfach zugänglich, bietet aber trotzdem eine Fülle an sehr interessanten Ausführungen zu der Geschichte Japans und wissenschaftlichen Erkenntnissen aus der Psychologie.

Es hilft außerdem dabei, sein eigenes Leben nochmals kritisch anzuschauen. Wo klebe ich vielleicht an Dingen, die mir gar nicht guttun und sollte ich besser loslassen? Welche Dinge machen mir Spaß und sollten noch Gewicht im Alltag bekommen? Das Buch zu lesen, kann ich deshalb bedingungslos empfehlen. Es bringt wertvolle neue Perspektiven.

Unser größter Avocadobaum ist bereits 1,5 Meter hoch. Zahlreiche weitere Züchtungen haben wir im Freundeskreis verschenkt. Die Freude war jedes Mal groß darüber. Mein Mitbewohner ist inzwischen bei meinen Freund*innen bekannt als der Herr mit dem grünen Daumen. Er lacht jedes Mal, wenn ich ihm das erzähle.

Info zu neuen Buch-Kritiken

Du magst wissen, wann ich neue Buchkritiken online stelle? Auf meinem Instagram-Account poste ich das immer. Hier findest du ihn: Schmöker-Sammelsurium.

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Hallo, ich bin Miriam

Stets bin ich auf der Reise: durch Karlsruhe, die Kultur und die Welt. Dabei begegnen mir immer wieder interessante Menschen, Bücher, Filme und anderer Krimskrams. Damit all diese Erfahrungen und Eindrücke nicht einsam in meinem Kopf schwirren, gibt es diesen Blog. Aus Grau wird Kunterbunt.

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