Buchkritik: “Ein einfaches Leben” von Min Jin Lee
„Ein einfaches Leben“: Binge-Reading mit dem Roman von Min Jin Lee
Selten begegnet mir ein Buch, das federleicht zu lesen ist und gleichzeitig den Horizont für andere Kulturen öffnet. Entweder sind die Romane trivial und oberflächlich oder schwer zugänglich und dafür intelligent.
Genau diese seltene Kombination aus Unterhaltung und Tiefgang ist der Autorin Min Jin Lee mit ihrem Buch „Ein einfaches Leben“ gelungen. Ihr Weltbestseller, der im Original „Pachinko“ heißt, vereint eine spannende Familiengeschichte, die sich über rund 90 Jahre des 20. Jahrhunderts erstreckt. Sie handelt von Widerstandskraft, Leidensfähigkeit und Mut.
Ich habe das Buch in wenigen Tagen durchgelesen. Die Geschichte hat mich von der ersten Seite an so gefesselt, dass ich gar nicht gemerkt habe, wie schnell die Zeit vergeht. Es war beste Unterhaltung. Binge-Reading statt Binge-Watching.
Der Original-Titel bezieht sich auf die Pachinko-Spielhallen
Auf „Ein einfaches Leben“ stieß ich über den Podcast „Und was machst du am Wochenende“, in dem die „Weltkunst“-Chefredakteurin Lisa Zeitz über den New-York-Times-Bestseller spricht. Der Originaltitel „Pachinko“ bezieht sich auf japanische Spielautomaten. Noch heute gibt es in dem ostasiatischen Land zahlreiche der sogenannten Pachinko-Hallen, in denen es eng, bunt und laut zugeht. Die Besuchenden träumen vom großen Geldgewinn und von einem besseren Leben.
Letzteres wünscht sich auch Sunja. Sie steht im Mittelpunkt von „Ein einfaches Leben“ und muss mit ihren Angehörigen immer wieder neue Herausforderungen bewältigen. Sunja wächst im koreanischen Fischerdorf Yeongdo vor den Toren der Hafenstadt Busan auf. 1910 annektiert Japan Korea. Zahlreiche Pachtbauern verlieren ihr Land. Viele Familien leben in Armut und müssen sich der japanischen Herrschaft unterwerfen.
Da ihr Vater früh stirbt, hat Sunja bereits im Jugendalter viel Verantwortung. Ihr kleines Zuhause ist gleichzeitig ein sogenanntes Logierhaus, wo Arbeiter übernachten können und Essen bekommen. Sunja hilft ihrer Mutter und geht regelmäßig auf den Markt, um Lebensmittel zu kaufen. Dort begegnet ihr der vornehme und deutlich ältere Geschäftsmann Hansu, in den sie sich verliebt und von dem sie schwanger wird.
Das Problem: Hansu hat bereits Frau und Kinder in Osaka. Er kann Sunja nicht heiraten. Der jungen Frau droht die soziale Ausgrenzung. Doch sie hat Glück. Als ein japanischer Priester, der gerade bei ihnen wohnt, von ihrem Schicksal erfährt, bietet er ihr an, sie zu heiraten und mit nach Japan zu nehmen. Auch für das Kind will er sorgen. Sunja willigt ein. Doch in Japan erwarten sie viele Probleme und Enttäuschungen. Die Koreanerin gibt aber nicht auf und kämpft – für sich und ihre Familie.
Schwieriges Verhältnis von Japan und Korea
Was mir schon nach wenigen Kapiteln von „Ein einfaches Leben“ klar wird: Japan kommt nicht gut weg. Bisher hatte ich mich wenig mit dem Verhältnis des Landes zu Korea beschäftigt. Doch durch den Roman wird deutlich, dass die Beziehungen nicht nur während der Annexion, sondern auch nach dem Zweiten Weltkrieg schwierig bleiben, als Korea bereits wieder unabhängig ist.
So haben Menschen koreanischer Abstammung im 20. Jahrhundert große Schwierigkeiten, in Japan Arbeit zu finden Auch dürfen sie nur in bestimmten Wohngebieten leben und werden als Menschen zweiter Klasse behandelt. Die japanische Staatsbürgerschaft zu bekommen, ist nahezu unmöglich für sie.
Die in Amerika aufgewachsene Freundin von Sunjas Enkelsohn bemerkt gegen Ende des Buches:
„Warum wird in Japan immer noch zwischen den beiden Ländern unterschieden, obwohl die Koreaner seit vier Generationen in diesem Land leben, verdammt? Du bist hier geboren. Du bist kein Ausländer. Das ist doch Wahnsinn. Dein Vater ist auch hier geboren. Warum müsst ihr einen koreanischen Pass haben?“
Quelle: “Ein einfaches Leben”
Leichtigkeit trotz trauriger Geschichten
Das Besondere an Min Jin Lees Roman ist, dass es ihr trotz vieler traumatischer Ereignisse gelingt, eine gewisse Leichtigkeit in der Erzählung zu bewahren. Das liegt neben der wunderbar eingängigen Satzstruktur auch an den häufigen Zeitsprüngen zwischen den Kapiteln. Dadurch bleibt die Geschichte nicht in einer schwierigen Situation stehen, sondern bewegt sich weiter. Dieser Aufbau hat es mir leicht gemacht, immer weiter zu lesen.
„Ein einfaches Leben“ kann ich deshalb allen empfehlen, die ohne viel Anstrengung ein kluges Buch lesen möchten. Außerdem steigert der Roman die Wertschätzung für ein glückliches Zusammenleben mit der Familie und für unbeschwerte Zeiten. Sie sind keineswegs selbstverständlich.
More from my site
Der Blog ist komplett ohne Werbung, ich schreibe völlig frei, falls du mich dabei mit einem Kaffee unterstützen möchtest, freu ich mich.