4. September 2022

Buchkritik: “Die Diplomatin” von Lucy Fricke

"Die Diplomatin" von Lucy Fricke

„Die Diplomatin“: Wirklich so toll oder Geschmackssache?

Es kommt nicht oft vor, dass mir mehrere Menschen innerhalb kürzester Zeit schreiben, wie toll ein Buch sei und dass ich es unbedingt lesen müsse. Bei „Die Diplomatin“ von Lucy Fricke war genau das der Fall. Bislang hatte ich mich noch nicht näher mit dem Roman beschäftigt. Nun war ich neugierig und wollte wissen, was daran so besonders ist. Ist das Buch wirklich so toll oder vielleicht doch eher Geschmackssache und überbewertet?

Sehr unterhaltsam erzählt

Bereits nach den ersten Seiten von „Die Diplomatin“ ist mir klar: Lucy Fricke ist eine tolle Erzählerin. Ihre Beschreibungen sind wunderbar bildhaft, ihre Sprache ist locker und eingängig – es macht großen Spaß, die Geschichte zu lesen. Vor allem die kurzen Kapitel, die oft nur drei bis fünf Seiten lang sind, machen es mir einfach, dran zu bleiben. Die Handlung fliegt nur vor sich hin. Langweilig wird es nie.

Dieser launige Schreibstil ist jedoch konträr zu den Themen des Buchs, die keineswegs federleicht sind.

Einblick in die Welt der Diplomat*innen

Im Mittelpunkt der Geschichte steht die deutsche Diplomatin Friederike (Fred) Andermann, die mit Ende 40 in der Botschaft in Montevideo gelandet ist.

„Und nun war ich in einem Land auf dem Posten, wo Kühe auf endlosen Weiden lebten und stets die Asche von Grillkohle durch die Luft wirbelte. Wo Homo-Ehen, Abtreibungen und Marihuana legal waren. Wo grundsätzlich die Leute nur eine Hand frei hatten, weil sie in der anderen den Matebecher hielten, während im Nachbarland die Revolution losbrach.“

Fred ist ledig und hat keine Kinder. Regelmässigen Kontakt hält sie eigentlich nur zu ihrer Mutter. Die Diplomatin ist ein wenig spröde, aber liebenswert und lässt sich nicht korrumpieren. Der neue Job in Montevideo ist für sie eine Erfolgsgeschichte.

„Es hieß, der Minister persönlich habe mich nach oben geschossen. Mit Ende vierzig ein Posten als Botschafterin, das galt bei uns als kleine Sensation. Es hieß auch, es gebe kaum genügend kompetente Frauen, um die Quote zu erfüllen. Endlich das richtige Geschlecht, dachte ich.“

Jedoch ist ihr Aufenthalt in Montevideo nur von kurzer Dauer. Die Tochter einer berühmten deutschen Zeitungsverlegerin wird beim Reisen durch Uruguay ermordet. Fred hat ihr Verschwinden und den Anruf ihrer Mutter („Meine Tochter hat seit 24 Stunden nichts mehr auf Instagram gepostet“) zunächst nicht mit Dringlichkeit behandelt. Als die junge Frau in einer Hütte tot aufgefunden wird, ist das Drama groß. Fred wird zunächst nach Berlin versetzt und kommt dann nach Istanbul.

„Ein Jahr verging schnell, besonders dann, wenn man jeden Tag versuchte anzukommen. Nach den ersten drei Monaten hatte ich mir eingestehen müssen, dass die Stadt mich überforderte. Weitere drei Monate hatte ich verbissen dagegen angekämpft, bis ich es schließlich hinnahm, bis ich verstand, dass es das Wesen von Istanbul war, einen zu überfordern.

Willkür der türkischen Behörden

Ein Jahr nach ihrer Ankunft in Istanbul begegnet Fred dem jungen Mann Bariş. Er ist der Sohn einer deutsch-kurdischen Kuratorin, die in Istanbul im Gefängnis sitzt. Als er sie in der Türkei besucht, verhängen die Behörden eine Ausreisesperre. Bariş darf vorerst nicht mehr zurück nach Berlin. Der Vorwurf: Unterstützung einer terroristischen Vereinigung. Obwohl es zunächst keinen Beweis dafür gibt, sitzt Bariş in der Türkei fest und sucht nun mit seiner Anwältin Hilfe bei der deutschen Botschaft.

Es ist nicht die einzige brenzlige Aufgabe für Fred. Auch David, ein Journalist, den sie bereits in Montevideo kennenlernte und der nun in Istanbul investigativ recherchiert, hat große Probleme mit den türkischen Behörden und muss um seine Freiheit fürchten. Als sich die Ereignisse überschlagen, bemerkt Fred die Grenzen ihrer diplomatischen Möglichkeiten. Geduld ist aber nicht ihre Stärke und aufgeben schon gar nicht. Im Alleingang versucht Fred nun David, Bariş und dessen Mutter zu helfen. Geht das gut?

Ein spannender Politikthriller

„Die Diplomatin“ entwickelt sich aufgrund der turbulenten Ereignisse in der zweiten Hälfte zu einem spannenden Politikthriller. Lucy Fricke hat für die Recherche selbst in Istanbul gelebt und greift dadurch die Stimmung in der türkischen Metropole authentisch auf. Ich musste beim Lesen öfter an die Geschehnisse rund um die beiden Journalist*innen Denis Yücel und Mesale Tolu denken, die ebenfalls in der Türkei im Gefängnis saßen.

Außerdem bietet der Roman eine sehr interessante Einsicht in das Leben von angestellten Menschen in einer Botschaft. Wie sieht ihr Alltag aus? Wo liegen die Herausforderungen? Fred hält an einer Stelle lakonisch fest:

„Ich hatte mich für diesen Beruf entschieden, weil ich etwas bewirken wollte. Und jetzt hatte ich eine geschlagene Stunde über Grillfleisch und Bratwürstchen diskutiert.“

Der Tiefgang fehlt

Im Gesamten hat mich „Die Diplomatin“ deshalb gut unterhalten. Da das Buch aber mit 250 Seiten sehr kurz ist und an manchen Stellen die einzelnen Geschehnisse sehr schnell abgehandelt werden, fehlt mir an dem Roman der Tiefgang. Auch Emotionen kommen keine beziehungsweise nur sehr oberflächlich auf.

„Die Diplomatin“ ist deshalb kein Buch, das bei mir einen nachhaltigen Eindruck hinterlässt. Es ist vielmehr perfekte Lektüre für unkomplizierte Stunden.

Wenn ich selbst nochmals wählen könnte, würde ich deshalb warten, bis das Taschenbuch herauskommt. 22 Euro für das Hardcover sind doch ein wenig viel Geld für dieses zwar sehr angenehme, aber doch recht kurze Vergnügen.

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Hallo, ich bin Miriam

Stets bin ich auf der Reise: durch Karlsruhe, die Kultur und die Welt. Dabei begegnen mir immer wieder interessante Menschen, Bücher, Filme und anderer Krimskrams. Damit all diese Erfahrungen und Eindrücke nicht einsam in meinem Kopf schwirren, gibt es diesen Blog. Aus Grau wird Kunterbunt.

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