Buchkritik: „Lügen über meine Mutter“ von Daniela Dröscher
„Lügen über meine Mutter“: über die typische Unterdrückung einer Frau in den 1980-Jahren
Noch während ich „Lügen über meine Mutter“ von Daniela Dröscher lese, hämmert vor allem ein Gedanke immer wieder in meinem Kopf: „Zum Glück ist es für Frauen in den vergangenen 40 Jahren so viel leichter geworden, ein emanzipiertes Leben zu führen – was für ein Privileg hat meine Generation“.
Auch die Autorin schreibt:
„Immer wieder muss ich mir klarmachen, wie ungewohnt es für Frauen damals noch gewesen sein muss, ein eigenes Konto zu sitzen. Ebenso neu war es, einen Beruf wählen zu können, einen, der nicht von den Eltern ausgesucht, oder eine Stelle anzutreten, die nicht einfach vom Ehemann gekündigt werden konnte. Erst seit 1977, dem Jahr meiner Geburt, erhielten Frauen dieses Recht auf Selbstbestimmung.“
Daniela Dröscher blickt in ihrem Roman zurück auf ihre eigene Kindheit in einem typischen westdeutschen Dorf in den 1980er-Jahren. Was sie erzählt, kommt mir so bekannt vor, dass ich beim Lesen kaum stoppen kann. Ich verschlinge das Buch innerhalb weniger Tage, weil ich das Geschriebene so treffend und spannend finde.
Eine exemplarische Biografie
Im Rückblick ist mir klar: So viele Mütter, die mir in meiner Kindheit und Jugend auf verschiedenen Wegen begegnet sind, waren komplett abhängig von ihrem Mann, schafften es nicht, sich emotional oder finanziell zu emanzipieren und lebten dadurch häufig wie Gefangene.
Selbst wenn sie zutiefst unglücklich waren, trauten sie sich nicht, tiefgreifende Veränderungen zu fordern und überließen die meisten weitreichenden Entscheidungen ihrem Mann. Die Konsequenzen: Neurosen der unterschiedlichsten Art – spätestens, wenn die Kinder auszogen, verloren sich viele der Frauen komplett. Nur wenige Mutige schafften es, sich danach ein unabhängiges Leben aufzubauen, innerhalb oder außerhalb der Ehe.
„Lügen über meine Mutter“ greift sich exemplarisch solch eine Biografie heraus. Der Roman handelt von den Demütigungen, die sich Daniela Dröschers Mutter in Endlosschleife von ihrem Mann anhören muss. Sein Hauptangriffspunkt: Ihr Körpergewicht.
Nur ein Ventil
Im Laufe ihrer Ehe hat die attraktive Frau zwar tatsächlich an Gewicht zugelegt. Letztlich ist es für ihn aber nur ein Ventil, um sie für seine eigenen Unsicherheiten und sein Versagen verantwortlich zu machen. Wird er nicht befördert, liegt es beispielsweise daran, dass sie zu wenig repräsentativ ist. Dass es sein fehlender Studienabschluss sein könnte, das verdrängt er wohl selbst.
Noch paradoxer macht die gesamte Situation, dass die Mutter mit dem Abitur eine höhere Bildung als ihr Mann hat, es aber gar nicht zur Disposition steht, dass sie es ist, die Karriere macht. Dass sie sich dann irgendwann zusätzlich zu ihrem Bürojob weiterbildet, belächelt er. Und erlaubt es außerdem nur, wenn sie trotzdem Haushalt und Kinderbetreuung meistert – was spätestens mit dem zweiten Kind eine riesige Herausforderung wird.
Denn: In den 1980er-Jahren gab es weder Elternzeit noch Elterngeld. Kinder kamen in der Regel mit drei Jahren in den Kindergarten, solange blieb die Frau zu Hause. Das war zumindest in westdeutschen Dörfern üblich. Was sollen sonst die Nachbarn denken? Die Außenwirkung musste schließlich stimmen.
„Ich habe einen Prinzen bekommen und ihn weiter als Prinzen behandelt“, sagt meine Mutter immer und zuckt mit den Achseln. (…) Drei Dinge, sagt meine Mutter, hat sie bei ihrer Heirat unterschätzt: die Schwerkraft des Dorfes, die Bedürfnisse ihres Prinzen, den Neid ihrer Schwiegermutter. Vor allem aber sich selbst hat sie unterschätzt. Meine Mutter wollte nicht laufen und ausführen. Sie hatte ihren eigenen Kopf, ihren ganz eigenen Kopf, samt Körper.“
Körpergewicht spiegelt Unglück wider
So spiegelt sich in ihrem Gewicht auch ihr emotionaler Zustand. Je mehr sie unterdrückt und kritisiert wird, desto mehr nimmt sie zu – trotz zahlreicher Diäten. Mit dem Essen kompensiert sie ihre negativen Gefühle und rebelliert gleichzeitig gegen den Druck.
„Lügen über meine Mutter“ ist dadurch wie eine Mikrostudie, die repräsentativ für so viele Ehen in den 1980er-Jahren steht. Besonders interessant liest es sich auch dadurch, dass Daniela Dröscher nach fast jedem Kapitel, das sich ihrer Kindheit widmet, aus der Gegenwart kommentiert, das Geschehene als Erwachsene psychologisch sowie soziologisch einordnet und außerdem die Perspektive der Mutter zeigt. Dadurch ist der Roman weit mehr als eine gewöhnliche Erzählung.
Sehr kurzweiliges Lesevergnügen
Aber nicht nur die Konzeption des Buches finde ich äußerst gelungen. Die Autorin erzählt die Geschichte ihrer Familie zwar schonungslos, aber auch mit Humor.
Die kurzen Kapitel sind sehr zugänglich, nie niederschmetternd, sondern fast schon grotesk. Wie hielt es ihre Mutter mit diesem Mann nur aus? Wie schwer muss es für sie gewesen sein, einen Ausweg zu finden? Diese Fragen überkommen mich immer wieder.
Unklar ist, ob sich alles tatsächlich so zugetragen hat. Schließlich ist es ein Roman und keine Biografie. Das ist aber auch zweitrangig. Was bleibt ist die Botschaft: Ich verspüre eine große Dankbarkeit als Frau heute leben zu können, mit gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, die die Vereinbarkeit von Beruf und Familie deutlich erleichtern, und einem Mann, der Gleichberechtigung selbst leben möchte.
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Ich habe den Roman bislang noch nicht gelesen und verstehe nach deiner Besprechung noch besser, warum er derzeit in aller Munde ist und für Preise nominiert wird. Ich finde es so spannend und wichtig, dass jetzt auch die Zeit der 80er und 90er Jahre in Westdeutschland aus feministischer Perspektive aufgearbeitet wird, denn aus eigener kindlicher Erinnerung heraus und mit heutigem (ebenso dankbarem) Blick, lag (und liegt) dort für Frauen immer noch einiges im Argen. Das Buch kommt auf jeden Fall auf die Wunschliste!
Viele Grüße
Jana