Buchkritik: “Avalon” von Nell Zink
Rezension “Avalon” von Nell Zink: toller Humor und sperrige Abschnitte
Die Startbedingungen ins Leben könnten für Bran kaum schlechter sein. Ihre Mutter zieht in ein tibetisch-buddhistisches Kloster, als Bran in die vierte Klasse geht. Ihr Vater verschwand schon lange vorher nach Australien. Da ihre Großeltern in einem Wohnwagenpark für Rentner leben, in dem niemand unter 25 Jahren länger als eine Woche bleiben darf, landet die Zehnjährige bei ihrem Stiefvater und dessen Clan: den Hendersons.
Die Männer betreiben in Torrance, Kalifornien, eine zwielichtige Baumschule. Das Geschäft brummt – dank der Arbeit von Frauen, Kindern und Geflüchteten.
Die Hendersons behielten mich gern. Ein zehnjähriges Stiefkind bedeutete ungefähr acht Jahre unbezahlte Arbeit und 20.000 Dollar Kindergeld, falls das Finanzamt mitspielte. Aus ihrer Sicht bot ihnen meine Mutter als finanziellen Ausgleich für ihre Freiheit mich an.
Quelle: “Avalon”
Wie Bran dort aufwächst, wie es ihr als junge Erwachsene ergeht und wie sie ihren Weg im Leben findet, das schreibt Nell Zink in ihrem Roman „Avalon“ in einer unglaublich geschliffenen Sprache, wunderbar ironisch, bissig und klug, an manchen Stellen aber auch sperrig und sehr kulturtheoretisch.
Ein Rückblick mit Gedächtnislücken
Bran erzählt in „Avalon“ ihre Geschichte im Rückblick – mit vielen Sprüngen und Lücken.
Ich habe Probleme, meine Kindheit in eine chronologische Reihenfolge zu bringen. Sie taucht nur in Fragmenten auf – wie ein entkernter und segmentierter Apfel. Setz ihn wieder zusammen und das Innere verschwindet.
Quelle: “Avalon”
Es ist ein tristes Leben, das Bran bei den Hendersons führt. Sie hat dort zwar ein Bett und bekommt auch etwas zu essen, aber zur Fürsorge, Liebe und Anteilnahme sind die Männer nicht in der Lage.
Bran muss immer nach der Schule in der Gärtnerei arbeiten, wird sexuell belästigt und hat keine Papiere, die sie ausweisen. Das wird ihr später Probleme bei der Arbeitssuche bereiten.
Erst als sie in an der Highschool mit ein paar weiteren Außenseitern einem Literaturmagazin neues Leben einhaucht, findet sie etwas, das ihr Freude bereitet und sie glücklich macht: das Schreiben. Doch fällt es ihr schwer, sich von den Hendersons zu lösen, Selbstbewusstsein zu entwickeln und ihren eigenen Weg zu gehen.
Witzig auf ungewöhnliche Weise
Coming-of-Age-Roman, Sozialkritik, Kulturreferenzen (Kafka, Performances, Flamenco): Nell Zink vereint in „Avalon“ mehrere Aspekte auf sehr intelligente Weise. Es ist kein einfacher Roman. Ich musste mich beim Lesen konzentrieren, manche Wörter nachschlagen und bestimmte detailreiche Ausführungen fand ich langatmig – wie die über Brans zweites Drehbuch oder die Diskussion über Faschismus.
Begeistert hat mich das Buch aber unter anderem wegen des klugen und trockenen Humors der Autorin. Nell Zink gelingt es immer wieder, durch witzige Formulierungen Leichtigkeit in die Schwere von Brans Lebensgeschichte zu bringen.
“Es gibt kein richtiges Leben im falschen” – zum Beispiel. So verwarf Adorno die Möglichkeit, dass der Mensch in funktionalistischen Wohnprojekten mit Billigmobiliar glücklich werden könne. Ich hatte noch nie ein so drastisches, prosaisches Buch gelesen – jedenfalls was die Teile betraf, die ich verstand, vielleicht jeden zwanzigsten Satz.
Quelle: “Avalon”
Keine Chancengleichheit
Großartig an „Avalon“ ist auch, wie Nell Zink ihre Protagonistin innerlich wachsen lässt, aber auch immer wieder zeigt, wie schwer es ist, sich von einer schwierigen Kindheit zu lösen, Selbstwertgefühl zu entwickeln und sich nicht ständig selbst zu manipulieren.
Der Roman macht auch deutlich, wie kompliziert es in den USA ist, seinen Weg zu machen, wenn man nicht aus einer privilegierten Familie kommt. Chancengleichheit: Fehlanzeige.
Das wird unter anderem an Bran und ihrer großen Liebe Peter deutlich. Er ist mit einer Frau aus einflussreicher Familie verlobt, die ihm ein Studium in Harvard ermöglicht. Trotzdem schläft er immer wieder mit Bran.
„Er war über viertausend Kilometer weit fortgezogen. Er würde sie heiraten. Warum fiel es mir so schwer einzusehen, dass wir unser Leben nicht zusammen verbringen würden? (…) Warum konnte ich meine Hand nicht von der heißen Herdplatte nehmen? Ich kann Ihnen sagen, warum: Weil es so verdammt schön ist, sich die Finger zu verbrennen.“
Quelle: “Avalon”
Wird es Bran gelingen, sich von Peter zu emanzipieren? Ich möchte nicht spoilern. Es ist nur ein Grund, „Avalon“ zu lesen.
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