Buchkritik: “Was man von hier aus sehen kann” von Mariana Leky
Ein Feuerwerk an grandiosen Ideen: “Was man von hier aus sehen kann”
Dass mir „Was man von hier aus sehen kann“ von Mariana Leky nachhaltig ans Herzen wachsen wird, ist mir bereits nach wenigen Seiten klar. Von meiner Couch aus reise ich durch das Buch in eine Welt, in der die Sprache vor Schönheit trieft, die Charaktere mit liebevollen Kanten überzeugen und in der der Tod zwar für traurige Momente sorgt, aber der Handlung auch unwahrscheinlich viel Tiefe verleiht.
Mariana Leky ist eine großartige Erzählerin. In „Was man von hier aus sehen kann“ zündet sie ein Feuerwerk an kuriosen Ideen und Ereignissen. Dadurch ist nicht nur die Handlung an sich eine Stärke des Romans, sondern auch die vielen skurrilen kleinen Beschreibungen des Alltags der Protagonst*innen, die auf nahezu jeder Seite zu finden sind.
Nun, um was geht es aber in „Was man von hier aus sehen kann“?
Eine kleine Schicksalsgemeinschaft ist füreinander da
Im Mittelpunkt steht Luise. Sie ist im ersten Teil in der vierten Klasse, später eine erwachsene Frau. In ihrem Leben spielen ihr Schulfreund Martin, ihre Oma Selma und deren platonischer Freund, der Optiker, eine wichtige Rolle. Alle wohnen sie in einem Dorf im Westerwald. Sie sind eine kleine Schicksalsgemeinschaft, die durch viel Liebe und Loyalität miteinander verbunden ist.
Da Luises Eltern sehr mit sich selbst beschäftigt sind und Martin bei seinem alkoholkranken Vater aufwächst, kümmern sich Selma und der Optiker oft um die beiden Heranwachsenden. Sie bringen ihnen das Schwimmen bei und erklären ihnen die kleinen und großen Phänomene des Lebens.
Der Optiker ist außerdem seit Jahrzehnten in Selma verliebt, hat sich aber nie getraut, es ihr zu sagen. So führen die Senioren eine innige Beziehung ohne Körperlichkeiten.
Wer wird sterben?
Die Handlung setzt im April 1983 ein, an einem dramatischen Tag. Luises Oma Selma hat von einem Okapi geträumt. Was zunächst harmlos klingt, ist es nicht. Immer, wenn Selma im Schlaf dieses außergewöhnliche Tier erscheint, stirbt innerhalb von 24 Stunden ein Mensch im Dorf. Es herrscht deshalb Aufregung.
Die Leute im Dorf beargwöhnten ihr Herz, das so viel Aufmerksamkeit nicht gewohnt war und deshalb verstörend schnell klopfte. Sie erinnerten sich, dass es bei einem aufziehenden Herzinfarkt in einem Arm kribbelt, sie erinnerten sich aber nicht, in welchem, deshalb kribbelte es den Leuten im Dorf in beiden Armen. (…) Einige Leute im Dorf fanden, dass es jetzt unbedingt an der Zeit sei, mit einer verschwiegenen Wahrheit herauszurücken. Sie schrieben Briefe, ungewohnt wortreiche, in denen von „immer“ und „niemals“ die Rede war.
Nach insgesamt 27 Stunden passiert es dann tatsächlich. Eine Person stirbt. Es ist eine riesige Tragödie. Doch anstatt bei ihr zu verharren, führt Mariana Leky die Lesenden in den zweiten Teil und springt zehn Jahre in die Zukunft. Das nimmt der Handlung eine große Schwere. In Rückblenden gibt es zwar Einblicke, was direkt nach dem Tod des Menschen passierte – aber eine Distanz ist vorhanden.
Ein buddhistischer Mönch im Westerwald
Luise ist inzwischen mit der Schule fertig und arbeitet in der nahen Kleinstadt in einer Buchhandlung. Zufällig lernt sie mitten im Westerwald Frederik kennen, einen buddhistischen Mönch, der eigentlich im Kloster in Japan lebt. Luise ist schockverliebt und auch Frederik fühlt sich zu ihr hingezogen – doch kann ihre Liebe zwischen verschiedenen Kontinenten und mit Zeitverschiebung funktionieren?
So steht ab dem zweiten Teil diese zarte Liebesbeziehung im Fokus. Sie lässt aber noch genügend Raum für weitere tolle Charaktere. Unter anderem die traurige Marlies und die abergläubische Elsbet tauchen immer mal wieder auf.
Was für eine Wohltat
Es ist solch eine Wohltat, dieses Buch zu lesen. Ich muss mehrmals mit den Tränen kämpfen – vor Trauer, aber auch Rührung. Immer wieder staune ich, wie fantasievoll Mariana Leky ist und welch ein gutes Gespür sie für ihre Figuren und das Leben hat. Nie driftet die Geschichte ins Abstruse ab, sondern überzeugt einfach nur mit grandiosen Einfällen.
Außerdem schafft es „Was man von hier aus sehen kann“, dass ich das Leben wieder mehr zu schätzen weiß. Nichts ist selbstverständlich, nichts währt ewig. Das führt mir der Roman wieder vor Augen. Wichtig ist es, immer füreinander da zu sein, sich gegenseitig zu stützen und den Augenblick wahrzunehmen. Deshalb bleibt mir als Fazit nur zu sagen: Was für ein tolles, tolles Buch!
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