Karl Ove Knausgård: “Lieben”
Karl Ove Knausgård: “Lieben”: der Zauber des Gewöhnlichen
40 Seiten über einen Kindergeburtstag – ohne dass irgendetwas Außergewöhnliches passiert. Kinder spielen miteinander, Erwachsene unterhalten sich am Tisch: über Immobilienpreise, Rentensysteme, die Arbeit. Es gibt Kichererbsen zu essen, Cola Light zu trinken und am Ende eine Süßigkeitentüte für die kleinen Gäste.
Karl Ove Knausgård treibt gleich zu Beginn von „Lieben“ seine Detailversessenheit ins Unendliche. Eine Dramaturgie? Gibt es nicht, vielmehr erzählt Knausgård vom gewöhnlichen Alltag, von seinen Beobachtungen, die er dabei macht und von seinen Gefühlen. Das macht er aber so gut, dass ich wieder komplett in seine Welt eintauchte – dieses Mal in eine leichtere als bei „Sterben“, dem ersten Band seiner sechsteiligen „Min Kamp“-Serie.
Gnadenlos ehrlich
In „Lieben“, dem zweiten Band, widmet sich der Norweger seiner Familie und seinen engsten Freunden. Er erzählt, wie er seine zweite Frau Linda kennenlernt, von seinen inneren Kämpfen als Familienvater und seinen Freundschaften. Das macht er mit solch einer Ehrlichkeit und Genauigkeit, ja, mit einer radikalen Gnadenlosigkeit, dass ich inzwischen sehr gut nachvollziehen kann, warum er von zahlreiche Klagen überschüttet wurde – und seine Frau, nachdem sie das Manuskript von „Lieben“ las, einen Nervenzusammenbruch erlitt. Inzwischen sind sie getrennt.
Karl Ove Knausgård ist auch in seinem zweiten Band nicht nur sehr selbstreflektiert, lässt einen Einblick in seine eigenen Schwächen und Zweifel zu, sondern leuchtet auch seine Mitmenschen komplett aus. Er beschreibt in epischer Breite die manisch-depressiven Zustände seiner Frau, erzählt von den vermuteten Alkoholproblemen seiner Schwiegermutter und den Charakterschwächen seiner besten Freunde. Für ihn legitimiert seine Schreibleidenschaft alles. Ich kam an vielen Stellen ins Grübeln. Wie weit darf ein Künstler in seiner Autobiografie gehen? Rechtfertigt die Kunst die Mittel?
Gedanken zum Leben
Ich finde es in diesem Fall tatsächlich einen großen Gewinn für die Leser. „Lieben“ ist nämlich gerade wegen all dieser Ehrlichkeit eine Wucht. Man wandelt zwischen Beobachter und Entdecker: Karl Ove Knausgård nimmt einen mitten rein ins Leben, schreibt zum einen sehr szenisch, bringt einen aber zum anderen durch seine Gedanken auch immer wieder selbst dazu, über sein eigenes Handeln nachzudenken. Wie viel Freiheit ist in einer Beziehung wichtig? Wie viele Kompromisse notwendig? Wie verändern sich Paarbeziehungen, wenn der große Funke immer weniger glüht? Und er schreibt ganz ehrlich von all den negativen Gefühlen, die es in ihm auslöste, für seine erste Tochter eine zeitlang das Schreiben unterbrechen zu müssen, zuhause zu sein und sich um sie zu kümmern.
Der Norweger ist außerdem unfassbar belesen, er bringt in „Lieben“ wie nebenbei Literaturvergleiche von russischen Schriftstellern unter, führt mit seinem Freund Geir hochphilosophische Gespräche über Glück, Unschuld, Ethik und Moral. Außerdem erzählt er immer wieder von den Unterschieden, die es in der Mentalität zwischen Schweden und Norwegern gibt.
Wunderbare Zeilen
Was mich aber am meisten in „Lieben“ mitriss, waren seine Erzählungen, wie er Linda begegnete, wie groß seine Liebe für sie war – und dass er tatsächlich in Ohnmacht fiel, als sie sich zum ersten Mal küssten.
“Und dann erzählte ich ihr, wer sie für mich war. Alles, was ich in meinem Brief geschrieben hatte, sagte ich ihr jetzt. Ich beschrieb ihre Lippen, ihre Augen, ihre Art zu gehen, die Worte, die sie benutzte. Ich sagte ihr, dass ich sie liebte, obwohl ich sie nicht kannte. Ich sagte, dass ich mit ihr zusammen sein wollte. Dass es das Einzige war, was ich wirklich wollte.
Sie ging auf die Zehenspitzen und hob ihr Gesicht zu meinem, ich beugte mich vor und küsste sie.Dann wurde alles schwarz.”
Wunderschön.
Hier geht es zu der Rezension des ersten Bandes: Sterben.
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