Heimat: “Ausstellung von Romy Rüegger im Badischen Kunstverein”
Wer hat ein Recht auf Wohnraum?
Ein Einzelbett, ein kleiner Tisch und ein Sofa verteilt auf 20 Quadratmetern: Was zunächst nach einer sehr spartanischen Einrichtung klingt, war in den 1920er-Jahren in der Schweiz noch keine Selbstverständlichkeit für alleinstehende und arbeitende Frauen. Bis 1927 konnten sie nur unter sehr erschwerten Bedingungen Wohnraum mieten – meist gerieten sie dadurch in den Verdacht, Sexarbeiterinnen zu sein.
Verschiedene Frauen gründeten deshalb die Baugenossenschaft berufstätiger Frauen, kauften Bauland und schufen den Wohnkomplex „Lettenhof“in Zürich. Die erste Frau mit eigenem Architekturbüro in der Schweiz, Lux Guyer, entwarf ihn.
Doch was keine Berücksichtigung fand: Spaß und die Befriedigung emotionaler Bedürfnisse. Das Restaurant auf dem Gelände schenkte beispielsweise keinen Alkohol aus. Oft lebten die Frauen isoliert in ihren Wohnungen, mit kurzen Wegen zur Arbeit, nahe am Industriequartier.
Die Künstlerin Romy Rüegger verbrachte selbst einige Zeit im „Lettenhof“ und hat nun im Kleinen Saal des Badischen Kunstvereins einen 1:1 Grundriss einer Wohnung nachgebaut.
„Si tu vivais ici…If you lived there“ ist eine Rauminstallation, in der sie am Eröffnungstag ihrer Ausstellung „The Moving Body, The Listening Body – Moving through wires of wind“ auch ihre erste von drei Performances zeigte – eine Collage aus Texten, Tönen und Sprachaufnahmen. Die Frage nach bezahlbarem Wohnraum ist für die Künstlerin nicht nur ein Blick zurück. Die Gentrifizierung und die Spekulationen um Immobilien haben sie wieder brandaktuell werden lassen.
Feminismus, Kolonialisierung, Vertreibung und Flucht
Vergangenheit und Zukunft, gesellschaftliche und individuelle Erfahrungen: Die 37-Jährige, die in Wien, Zürich und Buenos Aires studierte, bringt bei ihrer Ausstellung im Badischen Kunstverein verschiedene Ebenen immer wieder geschickt zusammen. Feminismus, Kolonialisierung, Vertreibung und Flucht. Gesellschaftliche Entwicklungen stehen bei ihren drei Arbeiten, die sie bis 29. November beim Kunstverein zeigt, im Fokus. Sie recherchierte dafür in die verschiedensten Richtungen und präsentiert ihre Ergebnisse auf vielschichtige Weise. Performances verknüpft sie mit choreographierten Räumen und Audio-Installationen.
A Fabric in Turkey Red
An einem Gestell hat die Künstlerin im Großen Saal Stoffbahnen angebracht. Sie leuchten in einem sogenannten Türkischrot. Diese Farbe wird aus der Krapp-Pflanze gewonnen, auch sie ist im Raum zu finden, eine Gabe des Botanischen Gartens Karlsruhe. An der Wand ist außerdem ein fernöstliches Motiv zu sehen, das Romy Rüegger in einer Broschüre entdeckte, als sie 2013 begann, sich mit der Schweizer Textilindustrie näher auseinanderzusetzen.
Auf der Suche nach der Original-Skizze des Motivs kam sie jedoch nur schleppend voran, zwar entdeckte sie, dass im Folgejahr der Skizzen-Entstehung, 1837, in der schweizerischen Stadt Glarus (Glarnerland) der erste Arbeiter*innenstreik in Europa stattfand und sich durch ihn die ersten Produktionsgesetze überhaupt etablierten – die Begrenzung der Arbeitszeit für Kinder und später auch für Erwachsene beispielsweise.
Doch einen Zugang zu weiteren Informationen bekam sie zunächst nicht. Zwischenzeitlich legte sie das Projekt sogar komplett zur Seite. Erst als sie 2019 für eine Ausstellung nach Italien reiste, entdeckte sie, dass die Stadt Ancona in einen Dreieckshandel involviert war, der zwischen Europa, dem afrikanischen Kontinent und den USA stattfand.
Konkret: Stoffe wurden in Europa hergestellt und nach Westafrika oder Südostasien verschifft. Dort wurden sie gegen versklavte Menschen eingetauscht, die dann wiederum in die USA oder die Karibik gebracht wurden, wo sie auf Baumwollplantagen arbeiteten. Auch die Stadt Glarus verschiffte über den Hafen in Ancona Stoffe sowie Baumwolle und unterstützte damit die kolonialen Strukturen.
Romy Rüegger vertiefte nochmals ihre Recherchen und hatte Erfolg: Eine neue Mitarbeiterin im Glarner Wirtschaftsarchiv in Schwanden ließ sie 2019 dann doch hinein. Dort fand sie alte Musterbriefe, Rezeptbücher und bekam einen Einblick in die Produktionsweise im 19. Jahrhundert. Videos, die ebenfalls im Großen Saal des Badischen Kunstvereins zu sehen sind, stellen eine Art Skizze dieses Besuchs dar.
Approaching Ultra Light
Mit der Verfolgung nicht-sesshafter Menschen in Schweiz, Süddeutschland und Elsass im 19. Jahrhundert befasst sich die Künstlerin in den Kabinetten des Badischen Kunstvereins. Porträtbilder von Menschen flimmern dazu an der Wand auf. Auch für diese Arbeit hat Romy Rüegger viel recherchiert und Zeit in Archiven verbracht. Sie fand heraus: Die nicht-sesshaften Menschen wurden fotografiert, um Lithografien anzufertigen, die an alle Polizeistationen verteilt wurden. Es waren die ersten Fahndungsfotos. Sesshaftes, weißes, homogenes Leben sollte die Norm sein, alles andere war eine Bedrohung.
Romy Rüegger geht es darum, rassifizierte Privilegien zu hinterfragen. In ihrer Performance zu dieser Arbeit greift die 37-Jährige auf Texte der Schriftstellerin Kathy Acker und dem Autor Jean Genet zurück. Diese Performance findet am 13. November, um 19 Uhr statt.
Romy Rüeggers Ausstellung überzeugt auf mehreren Ebenen: Sie erlaubt einen hochspannenden Blick in zeitgeschichtliche Zusammenhänge – durch Dokumentationen, poetischer Sprache, Audio-Aufnahmen und Bewegungen. Ein Besuch bereichert sehr!
Zum Programm des Badischen Kunstvereins
Weitere Informationen zur Ausstellung, zu Führungen und zur Performance von Romy Rüegger gibt es auf der Webseite des Badischen Kunstvereins.
Der Badische Kunstverein veranstaltet im Oktober außerdem eine Performance-, Workshop-, Vortrags- und Gesprächsreihe unter dem Titel „How do we care“. Das Programm beschäftigt sich mit der Fragilität und der Widerstandsfähigkeit von Körpern in Zeiten einer Pandemie. Mit dabei sind unter anderem Cola Taxi Okay und das Internationale Begegnungszentrum Karlsruhe. Weitere Informationen gibt es ebenfalls auf der Webseite.
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