Schmöker: „Ministerium der Träume“ von Hengameh Yaghoobifarah
„Ministerium der Träume“: ein Roman, der Bilder erzeugt und Töne erklingen lässt
TRAUM(A)FABRIK. Es braucht nur einen einzigen Buchstaben, um einen Traum platzen zu lassen. Protagonistin Nasrin entdeckt das zusätzliche „a“ im Graffito auf dem Gebäude gegenüber ihres Balkons nur wenige Stunden nachdem ihre Schwester Nushin bei einem Autounfall starb. War es Schicksal, ein Selbstmord oder ein Mord? Es ist zunächst unklar.
Nushin war alleinerziehende Mutter. Ihr letzter Wille im Testament: Ihre Schwester Nasrin soll sich um die pubertierende Parvin kümmern, die Vormundschaft für sie übernehmen. Nasrin sagt ja, packt ihre Koffer und zieht in die Wohnung zu ihrer Nichte. Nach und nach entdeckt sie dort Hinweise, dass mit dem Unfall ihrer Schwester irgendetwas nicht stimmt. Nasrin begibt sich auf Spurensuche. Was ist mit Nushin passiert?
Poesie & Anglizismen
„Ministerium der Träume“ lautet der Titel des ersten Romans von Hengameh Yaghoobifarah. So poetisch wie der Titel klingt, ist tatsächlich auch an vielen Stellen der Inhalt. Hengameh Yaghoobifarah zaubert Bilder wie diese:
„Nicht umsonst sehen Blutergüsse aus wie das Weltall, sie symbolisieren die unendliche Tiefe der Gefühle, die Intensität, egal ob Liebe oder Hass. Beides liegt so nah beieinander, dass es schwer ist, in das eine zu greifen und das andere nicht zu berühren.“
An manchen Stellen sind die Bilder zwar ein wenig schräg, wie hier:
„Ihre Stimme krachte wie eine Lawine über mir zusammen.“
Oder:
„Jetzt stehe ich mal wieder knietief in einem Scherbenhaufen und muss versuchen, mich nicht an den scharfen Kanten zu schneiden, während zeitgleich meine Gedanken wie eine schimmelige Zimmerdecke über mir einzustürzen drohen.
Auch lässt Hengameh Yaghoobifarah ihre Protagonist*innen Sätze „bellen“, lachen“ und „knirschen“ und spart an Verben wie „sagen“, „erzählen“, etc. Aber die kreative Experimentierfreude der Sätze ist definitiv eine der großen Stärken des Romans. Die Sprache ist außerdem sehr jung und zeitgemäß, immer wieder fliegen Anglizismen wie selbstverständlich zwischen die deutschen Worte, fügen sich natürlich ein.
Klischeekiste geht auf!
Wenig differenziert sind dagegen die deutschen Figuren, die im Roman auftauchen. Die typischen “Alman”-Stereotypen werden hier kreiert. Das heißt: Die ermittelnden Polizisten sind voreingenommen, die deutschen Frauen sind zickig und heulen schnell. Sie heißen Annette, Anne oder Annika, die rechtsradikalen Jungs aus dem Osten unter anderem Ronny und Mike.
Der Roman ist milder als die Kolumnen
Dieses verhältnismäßig noch harmlose Bashing der Polizei und “Almans” kommt für mich aber wenig überraschend. Seit längerer Zeit lese ich die Kolumnen von Hengameh Yaghoobifarah und höre auch immer wieder gerne den Podcast „Auf eine Tüte“.
Während mir vor allem die umstrittene Polizei-Kolumne zu radikal und zu polemisch war, finde ich den Podcast spannend, weil dort Menschen zu Wort kommen, die meist wenig Positives für die weiße Mehrheitsgesellschaft in Deutschland übrig haben.
Woran liegt das? Was macht sie so wütend? Warum ist meine Heimat ihr Albtraum? Ich möchte es durch zuhören und durch das Lesen ihrer Bücher und Texte besser verstehen. Deshalb war ich auch auf „Ministerium der Träume“ gespannt.
Flucht aus dem Iran
Die fiktive Erzählung spielt zwischen den 1980er-Jahren und heute. Der Tod von Nushin ist nicht das erste Trauma für die gebürtige Iranerin Nasrin, die nun in ihren 40ern ist.
Mit ihrer Mutter und ihrer Schwester kommt sie als Kind nach Deutschland. Der Vater will eigentlich nachkommen, wird aber gefangengenommen und hingerichtet. Ein Trauma, von dem sich besonders die Mutter nie mehr richtig erholt.
Aber auch für Nasrin ist Lübeck mit zahlreichen negativen Erlebnissen verknüpft. Als sie zwölf Jahre alt ist, vergewaltigt sie ein Rechtsradikaler. Außerdem wird sie Jahre später mit ihrer Crew auf dem Jahrmarkt von einer rechten Gang bedroht.
Sie will deshalb nur noch weg. Mit ihrer Schwester zieht sie als junge Erwachsene nach Berlin, wo sie freier leben kann und sich niemand an ihrer Homosexualität stört. Sie bekommt einen Job als Türsteherin in einem Club und hangelt sich durch den Alltag.
Durch Nushins Tod steht ihr Leben nun aber komplett auf dem Kopf. Der Verlust trifft sie emotional hart und das Zusammenleben mit Parvin ist eine Herausforderung.
Viele popkulturelle Referenzen
Trotz dieser schweren Themen habe ich „Ministerium der Träume“ innerhalb weniger Tage durchgelesen. Außer der vielen schönen Sätze zeigt Hengameh Yaghoobifarah darin ein großes popkulturelles Wissen. Immer wieder gibt es passende Zitate aus Popsongs, dadurch zeichnet Hengameh Yaghoobifarah nicht nur schöne Bilder, sondern lässt auch Töne beim Lesen erklingen.
Gegen Ende wird es wild
Die Geschichte entwickelt sich in der ersten Hälfte des Buches langsam, nimmt dann aber rasant Fahrt auf. Gegen Ende wird alles ein bisschen wild. Aber ich blieb immer dran, verschlang Seite um Seite.
„Ministerium der Träume“ ist weitaus milder und moderater als die Kolumnen von Hengameh Yaghoobifarah. Für mich als „Alman“ ist es ein Roman, der mir wieder einmal einen Einblick in die alltäglichen Kämpfe von nicht-weißen Menschen in Deutschland gibt.
Vieles war mir zwar nicht komplett neu, aber da es in Bezug auf Rassismus noch so viel zu tun gibt, finde ich es wichtig, sich immer wieder aufs Neue mit den Erlebnissen und Erfahrungen der Betroffenen auseinanderzusetzen – auch in fiktiver Romanform.
„Ministerium der Träume“ ermöglichte mir einen Perspektivwechsel und zeigte mir einen anderen Blick auf Deutschland – außerhalb meiner aufgeklärten, diversen Freundeskreis-Bubble.
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