Schmöker: “Zähne zeigen” von Zadie Smith
Klassiker der englischen Gegenwartsliteratur: „Zähne zeigen“ von Zadie Smith – eine Krititk
Es ist der 1. Januar 1975, als Archie versucht, sich mit einem Staubsauger das Leben zu nehmen. Seine Frau hat ihn verlassen, alleine lebt er nun mit 47 Jahren in einer Einzimmerwohnung, die über einer Pommesbude liegt.
Um seinem unglücklichen Dasein ein Ende zu bereiten, setzt er sich am Silvesterabend in sein Auto, fährt los, parkt vor einer Halal-Fleischerei im Nordwesten Londons und schließt seinen Staubsauger an den Auspuff.
Das Problem: Archies Karre steht im absoluten Halteverbot, direkt auf dem Platz, wo die Fleischerei um 6.30 Uhr 15 tote Rinder in Empfang nehmen möchte. Ein Mitarbeiter klopft deshalb an sein Fenster und sagt:
„Hören Sie, Mister?“ Wir haben hier keine Genehmigung für Selbstmorde. Der Ort hier ist halal. Koscher, kapiert? Falls Sie hier sterben wollen, mein Freund, müssen Sie leider vorher erst ordentlich ausgeblutet werden.“
Archie schreckt in seinem Auto hoch und sieht diese Intervention als ein Zeichen. Er möchte weiterleben.
Bitterböser Humor
Mit dieser skurrilen Szene beginnt „Zähne zeigen“, der mit zahlreichen Preisen ausgezeichnete Roman von Zadie Smith. Bis zur letzten Seite hatte ich solch ein Vergnügen mit dem bitterbösen Humor und einer Erzählung, die sich auf sehr unterhaltsame, aber auch ernste Weise mit vielen Themen der modernen Gesellschaft auseinandersetzt – mit Identität, Rassismus, Religion, Weltkriegen und Kolonialisierung.
Zwei Männer, eine Freundschaft
Im Mittelpunkt der Geschichte stehen Archie und Samad. Sie haben sich als Soldaten im Zweiten Weltkrieg kennengelernt. Das Besondere: Während Archie ein typisch weißer Brite ist, stammt Samad aus Bangladesh und ist Muslim. Als Teil der indischen Armee kämpft er für Großbritannien. Ein einschneidenes Erlebnis in den letzten Kriegstagen schweißt die Männer zusammen.
Nach dem Zweiten Weltkrieg trennen sich zunächst für drei Jahrzehnte ihre Wege. Samad kehrt zurück nach Bangladesh, Archie nach London. In den 1970er-Jahren beschließt Samad aber, nach England auszuwandern. Arbeit findet er als Kellner in einem indischen Restaurant im Nordwesten Londons – nun sind die beiden Männer wieder vereint und treffen sich regelmäßig in einem Pub, um Wichtiges in ihrem Leben zu besprechen.
Beispielsweise ihre Beziehungen zu Frauen. Während Samad eine arrangierte Ehe mit Alsana eingeht, lernt Archie noch am Morgen des 1. Januars auf einer Silvesterparty, bei der er zufällig nach seinem Selbstmordversuch landet, die Schülerin Clara kennen. Sie stammt aus einer jamaikanischen Zeugen-Jehova-Familie, hat kurz zuvor bei einem Motorradunfall ihre Schneidezähne verloren und möchte weg von Zuhause. Nur wenige Wochen später heiraten sie.
Familiengeschichte über mehrere Jahrzehnte
Fast zeitgleich werden Alsana und Clara schwanger. Samad wird Vater von den Zwillingen Millat und Magit. Archie und Clara freuen sich über ihre Tochter Ivy. Bis in die 2000er-Jahre erzählt Zadie Smith nun die Geschichte dieser beiden Familien – mit all ihren Problemen und teilweise sehr ungewöhnlichen Herausforderungen. Außerdem gibt es einige sehr kuriose Sidekicks zu den Menschen, die in das Leben der Familien treten.
Was für ein Debüt!
„Zähne zeigen“ erschien bereits im Jahr 2000 in Großbritannien und ist der Debütroman von Zadie Smith. Erst 25 Jahre war sie damals alt. Beim Lesen kam ich gar nicht mehr aus dem Staunen heraus, wie sie es so jung schaffte, solch einen unglaublich dicht bepackten Roman zu schreiben – mit einem umfangreichen soziologischen, biologischen und historischen Wissen.
Außerdem entwirft sie die unterschiedlichsten Charaktere, die sie mit Tiefe und Wärme ausleuchtet und denen sie teilweise sehr komische Geschichten schenkt.
Rassismus-Erfahrungen von verschiedenen Generationen
“Zähne zeigen” gibt einen sehr detaillierten und mehrdimensionalen Einblick in das Leben von eingewanderten Familien in Großbritannien. Zadie Smith zeigt durch ihre verschiedenen Protagonist*innen, wie schwierig es sowohl für die erste als auch die zweite Generation ist, sich heimisch in England zu fühlen. Millat beispielsweise hält als Teenager fest:
„Er wusste, dass er, Millat, ein Paki war, ganz gleich, wo er herkam, dass er nach Curry roch, keine sexuelle Identität hatte, anderen Leuten die Arbeitsplätze wegnahm oder keine Arbeit hatte und dem Steuerzahler auf der Tasche lag, oder alle Jobs nur an Verwandte vermittelte, dass er Zahnarzt werden konnte oder Ladenbesitzer oder Curryverkäufer, aber nicht Fußballspieler oder Filmemacher (…) Kurz gesagt, er wusste, dass er in diesem Land kein Gesicht hatte, keine Stimme…“
Während er sich im Laufe der Geschichte radikalisiert, gehen Magid und Ivy einen ganz anderen Weg. Am Ende wartet ein großer Showdown, der definitiv eine Überraschung bereithält.
Ein tolles Lesevergnügen!
Was mich an „Zähne zeigen“ besonders fasziniert, ist die Kombination von kreativen Ideen und Fakten, die Zadie Smith scheinbar so mühelos auf die Seiten zaubert. Das Buch funkelt regelrecht vor Witz, Intelligenz und Tiefgründigkeit. Obwohl der Roman schon 21 Jahre alt ist, hat er überhaupt nichts an Aktualität eingebüßt. Für mich war es ein pures Vergnügen, „Zähne zeigen“ zu lesen.
Sehr lesenswert von Zadie Smith ist auch der Roman “Swing Time“.
Serie “White Teeth”
Auf Youtube ist die vierteilige Serie zum Buch zu sehen. Sie heißt wie das englische Original: “White Teeth”
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