10. November 2021

Schmöker: “Brüste und Eier” von Mieko Kawakami

"Brüste und Eier" von Mieko Kawakami

Rezension: “Brüste und Eier”: ein Roman, in dem Männer nur Nebenrollen spielen

Es war mein japanischer Mitbewohner, der mir vom Buch „Brüste und Eier“ erzählte. Bei seinem letzten Heimatbesuch hatte er das Buch von Mieko Kawakami gekauft und mitgebracht. In Japan hatte der Roman vor allem bei konservativen Männern für großen Wirbel gesorgt, aber auch den wichtigsten Literaturpreis gewonnen.

Der Grund für die Aufregung: „Brüste und Eier“ stellt patriarchale Gesellschaftsnormen infrage, beschäftigt sich kritisch mit Schönheitsidealen und damit, wie Frauen ein selbstbestimmtes Leben führen können. Es handelt von der Menstruation, Brust-OPs und der Suche nach einem Samenspender. Männer spielen nur Nebenrollen.

Ein wenig fehlt im zweiten Teil die Dynamik

Der Roman könnte kaum zeitgemäßer sein. Einziger Minuspunkt: Er riss mich nicht immer völlig mit. Es fehlte mir in der Mitte zeitweise der Spannungsbogen, zahlreiche Dialoge zogen sich in die Länge. Das liegt eventuell daran, dass der Roman in zwei Teile untergliedert ist.

Teil eins erschien bereits 2008 als eigenständige Novelle. Den zweiten Teil dockte Mieko Kawakami dann viele Jahre später für den Roman an. Dieser Bruch ist für mich deutlich spürbar. Während Teil eins an wenigen Tagen im Sommer 2008 spielt, erstreckt sich die Handlung in Teil zwei über drei Jahre – von Sommer 2016 bis 2019. Der Schwerpunkt der Geschichten unterscheidet sich außerdem stark.

Familientreffen an einem heißen Sommertag

„Wenn man wissen will, wie arm jemand war, fragt man ihn am besten, wie viele Fenster die Wohnung hatte, in der er aufgewachsen ist. Was er aß oder wie er sich kleidete, spielt keine Rolle. (…) Je weniger Fenster jemand hatte – falls er überhaupt eines hatte -, desto größer ist die Armut.“

So beginnt der Roman, in dem die zunächst 30-jährige Natsuko im Mittelpunkt steht. Sie lebt in einer kleinen Wohnung in Tokio, versucht sich als Schriftstellerin, kann aber kaum die Miete bezahlen. Nachdem sie eine längere Beziehung hatte, lebt sie nun bewusst als Single. Sex war für sie mehr eine Qual als Vergnügen gewesen.

An einem heißen Sommertag kommen ihre ältere Schwester Makiko und deren zwölfjährige Tochter Midoriko zu Besuch. Sie wohnen noch in Osaka, wo auch Natsuko und Makiko in armen und traurigen Verhältnissen aufgewachsen sind. Der Vater hatte sich aus dem Staub gemacht, als die Mädchen noch klein waren, die Mutter starb wenige Jahre später an Krebs.

Während Natsuko alles hinter sich lassen konnte und nach Tokio zog, arbeitet Makiko in Osaka in einer heruntergekommenen Bar als Hostess und ist wie ihre eigene Mutter alleinerziehend. In Tokio möchte sie sich nun die Brüste operieren lassen.

Ihre Tochter Midoriko ist nicht nur davon irritiert. Das grundsätzlich schwierige Verhältnis zu ihrer Mutter hat sie verstummen lassen. Ihre Gedanken dazu und wie sie dazu steht, bald ihre Tage zu bekommen, hält sie schriftlich fest.

“Wenn ich meine Tage bekomme, fließt mir jahrzehntelang, so lange, bis ich meine Tage nicht mehr bekomme, jeden Monat Blut zwischen den Beinen heraus. Was für eine schreckliche Vorstellung. Wenn ich daran denke, dass ich das nicht stoppen kann, und dass wir zu Hause keine Binden haben, werde ich ganz trübsinnig.“

Einblick in das gesellschaftliche Leben in Japan

Dieser erste Teil, der etwa 160 Seiten umfasst, ist toll und kurzweilig erzählt. Mieko Kawakami wechselt zwischen atmosphärischen Beschreibungen und Dialogen. Die verschiedenen Perspektiven, Sorgen und Zwänge der drei Frauen sind spannend und lassen einen Blick zu in die gesellschaftlichen Normen Japans, aber auch das Denken vieler Frauen auf der ganzen Welt.

Wie finde ich einen Samenspender

Im zweiten Teil ist Natsuko dann acht Jahre älter. Ihr erster Roman war ein Erfolg, sie lebt weiterhin allein, aber in einer größeren Wohnung und schreibt an ihrem neuen Buch. Was sie nun umtreibt, ist der Wunsch, auch als alleinlebende, asexuelle Frau ein Kind zu bekommen. Ein Unterfangen, das im konservativen Japan gesellschaftlich stigmatisiert ist.

Tatsächlich fand ich es sehr interessant, Natsuko auf ihrem Weg zu begleiten, einen Samenspender zu finden. Mieko Kawakami zeigt dabei auch die Perspektiven von Betroffenen auf, die auf die Weise gezeugt wurden und nun im Erwachsenenalter mit Identitätsproblemen zu kämpfen haben. Zwischenzeitlich wird es nur eben ein wenig langatmig. Auch empfinde ich die beiden Teile als sehr eigenständig. Midoriko und Makiko spielen beispielsweise in der zweiten Geschichte kaum noch eine Rolle.

Fazit: Lesenswert, trotz der Längen

Trotzdem: Insgesamt ist „Brüste und Eier“ ein sehr lesenswerter Roman. Er ist sprachlich sehr gelungen und gibt einen sehr spannenden und detailreichen Einblick in den Alltag Japans, zeigt aber auch, wie universell viele Gedanken und Sorgen von Frauen in der heutigen Zeit sind.

Wie möchte ich leben? Und wie schwer ist der Weg, wenn er von der Norm der Mehrheitsgesellschaft abweicht? Damit beschäftigt sich der Roman von Mieko Kawakami, der viel ruhiger ist, als sein provokativer Titel vermuten lässt.

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Hallo, ich bin Miriam

Stets bin ich auf der Reise: durch Karlsruhe, die Kultur und die Welt. Dabei begegnen mir immer wieder interessante Menschen, Bücher, Filme und anderer Krimskrams. Damit all diese Erfahrungen und Eindrücke nicht einsam in meinem Kopf schwirren, gibt es diesen Blog. Aus Grau wird Kunterbunt.

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