Filmkritik: “Capernaum – Stadt der Hoffnung”
Herzreißend und voller Wucht: Capernaum – Stadt der Hoffnung
Es ist der schräge Kakerlakenmann aus dem Vergnügungspark, der in „Capernaum – Stadt der Hoffnung“ für einen kurzen Moment für Humor sorgt. Der ältere Herr im rosa Ganzkörperanzug setzt sich im Bus zu dem zwölfjährigen Zain, der verzweifelt und planlos aus Beirut weg will. Mutterseelenallein.
Nur einen blauen Müllsack hat er bei sich, in den er seine Habseligkeiten gestopft hat. Etwas zum Anziehen, ein paar Geldscheine, mehr nicht. Seine Eltern haben ihn aus dem Haus geprügelt, als er seine jüngere Schwester beschützen wollte. Der Kakerlakenmann interessiert sich für Zain, fragt ihn, wohin er gehe, erklärt ihm scherzhaft, dass er der Cousin von Spider-Man sei. Zain spürt die Wärme und folgt dem Mann in den Vergnügungspark voller bunter Lichter und Fahrgeschäfte.
Diese Leichtigkeit ist eine kostbare Rarität in dem libanesischen Film, der für den Oscar 2019 als bester nicht-englischsprachiger Film nominiert ist. Ansonsten ist das Werk der Regisseurin Nadine Labaki tieftraurig. Denn auch im quirligen Vergnügungspark trifft Zain schnell auf Menschen, die vom Schicksal schwer gebeutelt wurden. „Das Leben ist die Hölle“, sagt er gegen Ende des Films. Und da kann man ihm nach allem, was vorher passiert ist, nur zustimmen.
Lichtpunkte zwischen Ruinen und Müll
„Capernaum – Stadt der Hoffnung“ ist ein Film, der so voller emotionaler Kraft ist, dass er mich umgehauen hat. Ihn zu sehen ist eine Herausforderung. Vor allem, weil er so nah an der Realität ist. Capernaum ist ein arabischer Begriff für Chaos und Unordnung.
Im Film zeigt die Kamera auf Augenhöhe der Kinder genau diesen Zustand, umrahmt von unglaublich beeindruckenden Bildern der libanesischen Hauptstadt: mal von oben, mal gegen die Sonne gefilmt. Immer wieder tanzen bunte Lichtpunkte über die Leinwand. Diese oft sanften Bilder stehen in hartem Kontrast zu den Protagonisten – zwischen heruntergekommenen Häusern, Müllbergen, schmutziger Kleidung und leeren Bäuchen.
Ganz nah an der Realität
Im Zentrum der Handlung: Zain. Zu Beginn erscheint er in Handschellen im Gerichtssaal. Er will seine Eltern verklagen, weil sie ihn in die Welt gesetzt haben. Was zunächst irritierend wirkt, wird durch Rückblenden erklärt. Die Schicksale von Zain, seiner Schwester und seinen Weggefährten sind herzzerreißend.
Sie wirken wohl auch deshalb so bedrückend, weil schnell klar wird, dass in „Capernaum – Stadt der Hoffnung“ nicht übertrieben wird, sondern dass all die Geschichten, die die Regisseurin bei ihren Recherchen entdeckt hat, keine außergewöhnlichen Ausnahmen sind. Armut, arrangierte Ehen, Kinder auf der Straße, Flucht. All das ist Alltag in vielen Ländern Afrikas und des Nahen Ostens.
Happy End für Zain
Es sind auch die vielen Laiendarsteller, die dem ergreifenden Werk so viel Kraft und Authentizität verleihen. Wie Regisseurin Nadine Labaki in einem Interview mit der Zeit erzählt, kam zum Beispiel Zain Al Rafeea, der den gleichnamigen Protagonisten verkörpert, selbst als Flüchtling nach Beirut, ging nie zur Schule, arbeitete stattdessen als Bote auf der Straße und schleppte schwere Wasserflaschen durch die vermüllten Gassen. Das Casting-Team entdeckte ihn zufällig und engagierte ihn auf der Stelle. Heute lebt er in Norwegen. Zumindest für ihn ein Happy End.
Für die Protagonisten des Films gibt es wenig Gutes, sie sind Gefangene ihres Schicksals. Das ist bedrückend. Doch der Regisseurin gelingt die große Kunst, dem Einzelnen, der in der Asyl- oder Armutsdebatte meist gar nicht mehr gesehen wird, auf der großen Leinwand ein Gesicht zu geben, seine Ängste und Verzweiflung schonungslos zu zeigen.
Demut für das eigene Leben
„Cabernaum – Stadt der Hoffnung“ ist an vielen Stellen kaum auszuhalten, aber er macht wieder deutlich, wie großes Glück man selbst hat, nur Zuschauer zu sein und sich den Abspann im warmen Kinosaal auf bequemen Sesseln anschauen zu können – in Deutschland. In Cannes bekam der Film minutenlangen Applaus und den Jurypreis, er hat es verdient.
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