13. April 2021

Schmöker: “Die Vegetarierin” von Han Kang

"Die Vegetarierin" von Han Kang

Buchkritik: “Die Vegetarierin” von Han Kang: vom Wunsch, eine Pflanze zu werden!

Es ist ein blutrünstiger Traum, der Yong-Hye zur Vegetarierin werden lässt. Als sie davon mitten in der Nacht aufwacht, steht sie auf, räumt in ihrem Nachthemd und mit abstehenden Haaren die Gefriertruhe aus. Schweinebauch, Rinderfilets, Tintenfisch. Einen Gefrierbeutel nach dem anderen wirft sie in den Mülleimer. Als ihr Ehemann das bemerkt, ist er zutiefst irritiert. „Bist du übergeschnappt?“, fragt er sie aufgebracht. Für ihn steht die Welt Kopf. Seine bislang an Durchschnittlichkeit kaum zu übertreffende Gattin bringt den gewohnten Alltag durcheinander. Statt Steaks gibt es nun Algensuppe zum Abendessen. Ein Zustand, den er nicht akzeptieren kann.

Yong-Hyes Entscheidung, auf tierische Nahrungsmittel zu verzichten, ist der Beginn einer Reihe von Ereignissen, die an Dramatik kaum zu überbieten sind. Am Ende ist nichts mehr von ihrem alten Leben übrig.

Eine Geschichte, drei Erzähler

Die südkoreanische Autorin Han Kang hat mit „Die Vegetarierin“ ein ganz besonderes Buch geschaffen. Die Geschichte ist in drei sehr unterschiedliche Teile untergliedert. Die Erzähler wechseln und auch die Sprache passt sich den unterschiedlichen Perspektiven an. Im Mittelpunkt steht aber immer Yong-Hye.

Ihr konservativer Ehemann übernimmt den Auftakt und beginnt sehr lieblos von ihr zu erzählen. „Bevor meine Frau zur Vegetarierin wurde, hielt ich sie für völlig unscheinbar“, sagt er gleich auf der ersten Seite. Und führt weiter fort:

„Ihr Mangel an Ausstrahlung, ihr fehlender Esprit und Charme, kam mir im Grunde sehr gelegen. Auf diese Weise brauchte ich keine intellektuellen Anstrengungen verbringen, um sie für mich zu gewinnen und ich musste auch nicht fürchten, dass sie mich mit den makellosen Herrenmodels aus Modekatalogen verglich.“

Das Problem: Yong-Hye weicht immer mehr von dieser Durchschnittlichkeit ab. Zunächst vermeidet sie es, einen BH zu tragen. Sie fühlt sich dadurch eingeschränkt, sehnt sich nach mehr Freiheit. Eine Entscheidung, die ihr Ehemann zwar mit großem Unverständnis beobachtet, aber letztlich noch tolerieren kann.

Dass seine Frau aber keine tierischen Produkte mehr essen möchte, überfordert ihn komplett. Hilfesuchend wendet er sich an ihre Familie. Die Situation eskaliert – vor allem wegen Yong-Hyes Vater, der nicht zum ersten Mal handgreiflich wird. Der erste Teil endet dramatisch.

Vergleich mit Franz Kafkas Werken

Die südkoreanische Autorin hat für ihr Werk 2016 den Man’s Booker Award bekommen. Zurecht. Die außergewöhnliche Geschichte entwickelt von der ersten Seite an einen unglaublichen Sog, die Sprache ist brillant. Unaufgeregt, bildhaft und ohne lästige Schnörkel. Dadurch lässt sich das Buch mühelos lesen.

Immer wieder wird „Die Vegetarierin“ mit Werken von Franz Kafka verglichen – unter anderem mit „Die Verwandlung“. Denn auch Yong-Hye möchte nun ihre Gestalt verändern. Aber nicht etwa zum Käfer, sondern zur Pflanze werden. Sonne und Wasser: Das sind für sie die einzigen Notwendigkeiten, die sie zum Leben braucht. Essen verweigert sie konsequent. So magert sie immer mehr ab.

Der Wunsch nach Transformation wird größer

Der zweite Teil des Buches ist zunächst positiver. Nun kommt Yong-Hyes Schwager zu Wort. Ein exzentrischer Videokünstler, der im Gegenteil zu ihrem Ehemann wie besessen von ihr ist. Sein dringlichster Wunsch: Er möchte sie für ein Kunst-Projekt mit Pflanzen bemalen und vor laufender Kamera mit ihr schlafen. Damit bringt er Yong-Hye in eine unmögliche Situation.

Ihre Schwester erzählt den letzten Teil. Sie beschreibt die Lebensumstände, in denen sich Yong-Hye nun befindet. Ihr Wunsch, eine Pflanze zu sein, ist gewachsen. Die Schwester erinnert sich außerdem an die gemeinsame Kindheit. Dadurch wird klar, in welch gewaltvoller Umgebung die Mädchen aufwuchsen.

Lesenswerte Literatur

Als ich „Die Vegetarierin“ zu Ende gelesen hatte, war ich zunächst ein wenig ratlos. „Was war das für eine seltsame, traurige Geschichte?“, fragte ich mich. Aber je länger ich darüber nachdachte, desto mehr zog ich diese Erkenntnis daraus: Für mich ist der Roman ein Plädoyer gegen Gewalt und für Freiheit sowie Toleranz. Er zeigt, was passiert, wenn Menschen in ihren Wünschen dauerhaft unterdrückt oder ohne Liebe auskommen müssen. Sie verkümmern.

Das Buch ist kein Wohlfühl-Roman, der am Schluss mit einem romantischen Happy End für ein gutes Gefühl sorgt. Im Gegenteil. Aber er regt zum Nachdenken an und berührt. Deshalb ist „Die Vegetarierin“ Literatur, die es sich unbedingt zu lesen lohnt.

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Hallo, ich bin Miriam

Stets bin ich auf der Reise: durch Karlsruhe, die Kultur und die Welt. Dabei begegnen mir immer wieder interessante Menschen, Bücher, Filme und anderer Krimskrams. Damit all diese Erfahrungen und Eindrücke nicht einsam in meinem Kopf schwirren, gibt es diesen Blog. Aus Grau wird Kunterbunt.

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